Was wollen wir – Optimum oder Extrem?

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Es gibt viele Merkmale, die in ihrer Gesamtheit das arabische Pferd charakterisieren. Jedes dieser Merkmale hat auf einer Skala betrachtet ein Optimum. Die Frage ist, wo liegt dieses Optimum auf der Skala – immer am oberen Ende? Nehmen wir die Größe, diese reicht beim Araber von 1,40 bis 1,65 cm – ich behaupte, das Optimum bewegt sich um den Mittelwert, also 1,50 – 1,55 cm. Nun gibt es natürlich die Reiter, die dem widersprechen – der (Reiter-)Markt verlangt nach großen Pferden, da ist von 1,57 – 1,62 cm die Rede. Vom Mittel (Optimum) aus betrachtet liegt dies “oben”, im Extrembereich.
Ähnlich verhält es sich mit dem, was gemeinhin als “Typ” bezeichnet wird. Nehmen wir das Profil des Pferdes auf einer Skala, die von einem geraden Profil bis hin zu einem extremen Dish mit “Teetassenmäulchen” reicht. Das Optimum für mich ist wieder in der Mitte, eher sogar mit Tendenz nach unten. Bei einer Schau würde das vielleicht gerade mal eine 7 erhalten, eher weniger. Und da kommen wir zum Problem: Unsere Bewertungssysteme an der Schau, egal ob 10er oder 20er Richtsystem, egal ob 5 oder mehr Kriterien, vergibt immer die höchste Note an das Extrem, das am oberen Ende der Skala liegt – nicht an das Optimum. Wer dann siegen will – und wer will das nicht, wenn er an einem Wettbewerb teilnimmt – muß das Extrem anstreben, nicht das Optimum. Und das ist ein Fehler im System.
Der Hals ist ein weiteres Beispiel: Hier reicht die Skala (vereinfacht gesagt) von einem kurzen, dicken, geraden Hals, bis zu einem giraffenartig langen, schlangenförmig gebogenen Hals. Für mich liegt auch hier das Optimum (z.B. zum reiterlichen Gebrauch) in der Mitte. Auf Schauen werden aber immer die längeren Hälse höher bewertet werden, ohne dass damit ein wirklicher Sinn einhergeht – eben nur, weil es so schwierig ist, das Extrem mit Punktabzug zu “bestrafen”. Aber genau das ist es, was wir bräuchten – wir müssen das Optimum dem Extrem vorziehen.
Letztendlich waren es die Eigenschaften des Allrounders die dafür verantwortlich waren, dass der Araber in nahezu alle anderen Rassen problemlos eingekreuzt werden konnte. Der ideale Araber für mich ist ein Allrounder, kein Pferd der Extreme. Unter dem Reiter kann er alles, aber, außer im Distanzsport, nichts extrem gut (d.h. er ist nicht so gut wie die Spezialisten in den jeweiligen Disziplinen). . Er ist nicht extrem schnell (nicht so schnell wie ein englisches Vollblut), hat keinen extrem langen Hals (wenn wir uns an die alten Abbildungen erinnern) und – ja – auch keinen extremen Dish. Das alles sind “Errungenschaften” der Neuzeit, die das Individuum eigentlich vom Optimum und damit vom Ideal entfernen. Bislang ist es uns noch nicht gelungen, einen geeigneten “Wettbewerb” für einen Allrounder zu entwickeln, wo alle wichtigen Kriterien des Arabers abgedeckt sind, stattdessen spezialisieren wir die Rasse in einzelnen Bereichen bis zur Groteske. Es wird Zeit, dass wir andere Bewertungssysteme schaffen, die nicht die Extreme belohnt, sondern das Optimum, das Ideal.
Gudrun Waiditschka