Derzeit werden wir mit “Jubiläen” geradezu bombadiert: “200 Jahre Weil-Marbacher Araberzucht”, “200 Jahre Janow Podlaski”, “200 Jahre Shagya-Araber-Zucht”. Was war denn los, vor 200 Jahren, dass damals quasi “alles” angefangen hat?
Ganz einfach, Napoleon hatte mit seinen Kriegen ganz Europa überzogen, hatte es nicht nur seiner Männern beraubt, die als Soldaten gefallen waren, sondern auch seiner Pferden, die die Kriegszüge nicht überlebt haben. In den meisten Ländern Europas brauchte es daher dringend neuer Impulse, die Pferdezucht wiederzubeleben – qualitativ und quantitativ. Im Nordwesten Europas kamen diese Impulse häufig über das Englische Vollblut, während im Südosten Europas – nicht zuletzt durch die Nähe zum Osmanischen Reich – dem arabischen Pferd der Vorzug gegeben wurde. Daher liegen auch die Staatsgestüte, die arabische Pferde züchten, vornehmlich im Osten Europas.
Diese Zuchten können heute auf eine 200jährige Geschichte zurückblicken. Eine Geschichte, die in den meisten Fällen genauestens dokumentiert wurde, für die Generationen von Stallmeistern gearbeitet und ihr Wissen investiert haben. Eine Geschichte voller Auf- und Niedergänge, auch voller Tragik, wenn wieder ein Krieg über’s Land gefegt ist und den Zuchtbestand dezimiert oder ganz ausgelöscht hat. Ich finde, wir sollten stolz sein, auf diese 200jährige Geschichte der Pferdezucht und auf die “Geschichten” die damit verknüpft sind. Wir sollten stolz sein, auf die Männer, die oftmals unter Einsatz ihres Lebens, Pferde im Orient gekauft und hierher geführt haben – ja, geführt, d.h. zu Fuß hierher gebracht haben!
Kultur bezeichnet im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt. In diesem Sinne ist das arabische Pferd ein Kulturprodukt, denn der Mensch hat immer und immer wieder selektiv auf das Pferd eingewirkt. Erst die Beduinen, dann wir Europäer – denn wir reiten nicht mehr auf kleinen 140-146 cm großen Pferden. Die sprichwörtliche Ausdauer des arabischen Pferdes war bei den Wanderungen der Beduinen durch die Wüste ein Muß, auch seine Schnelligkeit, damit man nach einem Raubzug sicher wieder zu seinem Stamm zurückkam. Dies alles kam auch den Soldaten in Europa zugute, denn gerade in den Napoleonischen Kriegen waren es insbesondere die arabischen Pferde, die die Strapazen überlebt haben. Seine Schönheit allerdings hatte bei den Beduinen eine sehr untergeordnete bis gar keine Rolle gespielt, sie wurde erst in den letzten Jahren zum Markenzeichen der Rasse.
Alle Zuchtrichtungen haben ihre eigene Geschichte, ihre besonderen Eigenschaften, und es ist nur legitim, dass sich jeder Züchter die für ihn am besten “passenden” Linien sucht, und mit diesen züchtet. Leider scheinen jedoch die Linien, die – historisch betrachtet – seit rund 200 Jahren die Geschichte unseres Landes mitgestaltet haben, ins Hintertreffen zu geraten, denn es fehlt ihnen an einer entsprechenden Lobby. Daher versuchen wir hier bereits seit einiger Zeit eine Lanze für diejenigen Züchter zu brechen, die sich diesen alten Linien verschrieben haben. Nicht zuletzt bewahren sie ein Stück Kulturgut, ein Stück Geschichte – und darauf darf man ruhig ein bischen stolz sein!
Gudrun Waiditschka