Das Versagen einer Institution (II)

Die Beurteilung von Zuchttieren hängt in erster Linie von den Richtern ab, von ihrem hippologischen Fachwissen, ihrer Erfahrung und ihrer Integrität. Aber genau bei diesen Punkten hapert es zunehmend, weshalb Schauen/Shows in unseren Breiten zunehmend an Bedeutung verlieren. Zweitens bestimmt das Richtsystem, welchen Sieger wir im Ring sehen. Um aber zu verstehen, wie wir in die jetztige Situation gekommen sind, müssen wir uns die Grundideen und Grundstrukturen anschauen, auf denen unsere Schauen/Shows aufgebaut sind.

Die Richtsysteme

Die Art und Weise, wie man Tiere selektiert, hat einen entscheidenden Einfluß auf das Erscheinungsbild der jeweiligen Rasse. Findet die Selektion ausschließlich auf der Rennbahn statt, hat man bald „kleine Englische Vollblüter“. Findet die Selektion ausschließlich über Schönheitswettbewerbe statt, erhält man früher oder später Karrikaturen der eigentlichen Spezies – das ist bei Hunden und Katzen nicht anders als bei (arabischen) Pferden.
Die ECAHO ist in Europa und dem Mittleren Osten seit Mitte der 1980er-Jahre für die Schauen, die verwendeten Richtsysteme und die Richterausbildung verantwortlich. Sie hat seit ihrem Bestehen das 5-Kriterien / 10- bzw. 20-Punkte-System bevorzugt (bleiben wir der Einfachheit halber beim 20-Punkte-System, wenngleich das Gesagte auch für das 10-Punkte-System zutrifft), aber auch das in England beliebte vergleichende Richtsystem ist bei Nationalen Championaten sowie bei C-Schauen und geringeren Kategorien zulässig. Für diese Kategorien ist im Prinzip jedes Richtsystem zulässig (z.B. auch das 11-Kriterien / 10-Punkte-System der Schweizer Beständeschau), wenn es nur genau in der Ausschreibung beschrieben wird. Für A- und Titel-Schauen ist das Punktesystem verpflichtend, für B-Schauen empfohlen – dies dient vor allem der Vereinheitlichung der internationalen Schauen.
Ursprünglich war das Punkte-Richtsystem dazu gedacht, gegen ein Ideal zu richten: Das ideale arabische Pferd soll dabei die maximalen 20 Punkte in allen Kriterien erhalten, und somit maximal 100 Punkte erreichen (Rassestandard). Hingegen werden beim vergleichenden Richtsystem die Pferde nur miteinander verglichen und dann rangiert.
Mit dem Punktesystem will man vier Dinge erzielen:
a) Jedem Pferd wird eine Punktzahl (Endnote) zugewiesen, die eine Aussage über seine Qualität macht (Abweichung oder Übereinstimmung mit dem Rassestandard). Gleichzeitig erlauben die Endnoten eine genauere Differenzierung zwischen den Pferden, als es die bloße Rangfolge tut (Beispiel: Der Sieger hat 95 Punkte, der Zweite 94,5, der Dritte 90 – damit liegen Sieger und Zweitplazierter in ihrer Qualität näher beieinander als der Zweit- und Drittplazierte).
b) Der Besitzer soll anhand dieser differenzierten Beurteilung (5 Kriterien) erkennen können, wo die Stärken und Schwächen seines Pferdes liegen.
c) Durch die Endnoten werden die Pferde einer Klasse automatisch rangiert (d.h. in eine Reihenfolge gebracht).
d) Die Zuschauer – meist Besitzer, Züchter oder Liebhaber – haben das Gefühl, dass sie den Gedanken der Richter durch die Anzeige der vergebenen Punkte besser folgen können; das System wirkt transparenter, offener und ehrlicher.
So die Theorie.

In der Praxis krankt das Punktesystem an mehreren Stellen:
1) Man gaukelt dem Aussteller eine objektive Bewertung vor (mittels Noten bzw. Zahlen), die aber auf der subjektiven Einschätzung der Richter beruht.
Dadurch, dass die Endnoten bis auf das Hundertstel hinter dem Komma genau berechnet werden, wird dem Aussteller eine „Genauigkeit“ vorgegaukelt, die es aber – aufgrund der subjektiven Notengebung – so nicht gibt. Eine objektive Bewertung liegt dann vor, wenn man etwas messen kann, also beispielsweise die Zeit des Siegers in einem Rennen oder wieviele Stangen in einem Springparcours fallen – das ist in der Exterieurbeurteilung nicht der Fall. Eine Exterieurbeurteilung beruht immer auf der Erfahrung und Ausbildung der Richter und ihrem subjektiven Geschmack.
2) Das Punktesystem kann auf einfache Weise manipuliert werden.
In der Praxis ist jedes Richtsystem nur so gut wie dessen Anwender (also die Richter), und meiner Meinung nach wird das Punktesystem breitflächig und systematisch mißbraucht, selbst wenn wir hier der Einfachheit halber von Bestechung, Freundschaftsdienst, voraus-
eilendem Gehorsam etc., absehen … Ein Mißbrauch des Richtsystems findet auch dann statt, wenn der Richter schon in der gemeinsamen Schrittrunde seinen „Favoriten“ ausmacht und für sich beschließt: Dieses Pferd muß gewinnen! Um also die Chancen eines bestimmten Pferdes auf den Sieg zu erhöhen, kann der Richter nun seinem Favoriten mehr Punkte geben und/oder dessen stärkstem Konkurrenten weniger – und schon sind die durch Punkte ausgedrückten Qualitätsunterschiede der beiden Pferde größer, als sie es in Wirklichkeit sind und wird der „Favorit“ weiter vorne platziert, als er es – nüchtern betrachtet – verdient hat. Mit diesem „Geniestreich“ werden die obigen Punkte a) und b), die für das Punktesystem sprechen, ad absurdum geführt.
Nun ist es durchaus menschlich, dass man sich seinen Favoriten in der gemeinsamen Schrittrunde aussucht, und vielleicht auch schon den zweiten und dritten, grob das Mittelfeld definiert und den Schluß. Dann in der Einzelbetrachtung kann die Reihenfolge noch geringfügig hin- und herwechseln. Aber dazu braucht man kein Punktesystem, das ginge mit dem vergleichenden Richtsystem viel besser – und ehrlicher! Als Gegenargument für das vergleichende Richtsystem wird meist angeführt, dass, wenn der Aussteller mit dem Richter nicht glücklich ist – weil dieser z.B. Ägypter züchtet, der Aussteller aber Russen – er sein Pferd erst gar nicht zur Schau bringen wird. Das stimmt sicherlich bis zu einem Punkt, es gibt aber auch Systeme, die mehrere Richter vergleichend richten lassen. Wenn allerdings nur ein Richter richtet, muß er auch zu dem stehen, was er entscheidet und kann sich nicht im Pulk der 3-7 Richter „verstecken“, d. h. er ist allein verantwortlich für das Ergebnis. Und es spricht ebenfalls für das vergleichende Richten, dass es mehr in der Natur des Menschen liegt, die Pferde, die man vor sich sieht, miteinander zu vergleichen, als diese gegen ein „unsichtbares“ Ideal zu richten. Hier wie dort hat man am Ende der Klasse aber nur eine Rangfolge, denn die Punkte a) und b) werden im Punktesystem ad absurdum geführt, und sind im vergleichenden Richtsystem überhaupt nicht vorgesehen.

Gegenmaßnahmen

Auch von der ECAHO wurde erkannt, dass das Punktesystem durch „hoch- oder runterrichten“ einzelner Favoriten oder Konkurrenten manipulationsanfällig ist. Als eine Gegenmaßnahme wurde das Streichen der höchsten und niedrigesten Noten ausprobiert. Das aber hat zur Folge, dass die Richter dazu „erzogen“ werden, keine hohen oder niedrigen Noten zu vergeben, unabhängig davon, ob diese gerechtfertigt wären oder nicht. Kein Richter will, dass ständig seine Noten gestrichen werden, denn wer kann von außerhalb beurteilen, ob es sich um einen kompetenten Richter handelt, der einen Bockhuf mit einer 14 bewertet, oder um einen korrupten Richter, der mit einer 14 einen Konkurrenten aus dem Weg räumen will?
Und damit kommen wir zum „Einheitsbrei“ der Noten, die keine wirkliche Differenzierung mehr erkennen lassen. Tatsächlich bewegen sich die Noten i. d. R. zwischen 16 und 20 Punkten, bei hochkarätigen Schauen liegen sie bei 18-20, beim Fundament zwischen 15 und 17 Punkten. Dies hat verschiedene Ursachen:
a) Mangelndes Selbstbewußtsein der Richter, die Notenskala auszuschöpfen – kein Richter will vom Publikum ausgebuht werden …
b) Mangelnde Fachkenntnis der Richter, die Notenskala richtig anzuwenden.
c) Das Bedürfnis der Richter, den Aussteller (und damit den Organisator) durch niedrige Noten nicht zu verärgern – schließlich will man wieder eingeladen werden …
d) Die Punkte-Inflation und der „Notenstau“ am oberen Ende der Skala.
e) Das Streichen der höchsten und niedrigsten Noten (wie oben beschrieben).
Als Maßnahme hat die ECAHO für die großen und wichtigen Schauen (A- und höher) halbe Punkte eingeführt, das aber verschlimmert den Effekt nur, denn jetzt entscheidet das Hundertstel hinter dem Komma über Sieg und Niederlage.
Die hinter vorgehaltener Hand immer wieder vermutete Korruption soll durch ein möglichst großes Richterpanel verhindert werden. Am letzten Weltchampionat in Qatar wurden 15 Richter eingeladen, die ohne vorherige Bekanntgabe durch die Klassen rotierten, um möglichst sicherzustellen, dass sie nicht „von außen“ beeinflußt wurden. Welches Bild wird dadurch bestätigt?

Die Gewichtung der Einzelteile

Ein weiterer Kritikpunkt am Punktesystem ist die Gewichtung der Einzelteile, die auf eine Überbetonung des Typs hinausläuft. Die fünf Kriterien sind Typ – Kopf & Hals – Gebäude – Fundament – Bewegungen. Unter „Typ“ versteht man in der ECAHO gewöhnlich „Rassetyp“, und dieser wird in der Praxis zu geschätzten 80 % über den Kopf bzw. den „Dish“ definiert. Ein „typvolles“ Pferd hat also zweimal die Chance, hohe Punkte zu erreichen (für die Kriterien „Typ“ und “Kopf & Hals“), wohingegen ein Pferd mit weniger Typ, aber dafür mit guten Bewegungen nur ein Kriterium hat, in dem es punkten kann. Dies ist durchaus so gewollt, weil viele den Typ als das wichtigste Alleinstellungsmerkmal des arabischen Pferdes ansehen. Es ist aber auch das subjektivste aller Kriterien und damit das am wenigsten (objektiv) angreifbare und am ehesten manipulierbare Kriterium!

Ausbildung und Wirklichkeit

Liest man sich das (neue) „Richter-Handbuch“ der ECAHO durch, so ist da viel die Rede davon, wie ein arabisches Pferd aussehen sollte (https://issuu.com/ecaho/docs/ecaho_trainingmanual2023_issuu_digital). Und natürlich wird auch der arabische „Typ“ darin behandelt. Aber der Leser mag überrascht sein, dass dieser nicht zu 80 % am „Dish“ festgemacht wird! Hier ein Auszug:
„Der Typ ist in erster Linie die Art und Weise, wie wir eine Rasse von einer anderen unterscheiden. Beim arabischen Pferd erhält der Typ eine zusätzliche Bedeutung durch die natürlichen Eigenschaften der Rasse, ihre Präsenz und Extravaganz, die im Laufe der Jahrhunderte Malerei, Poesie und Fotografie beeinflusst haben. Heutzutage behalten wir bei der Beurteilung eines Pferdes zwar die Inspiration des Künstlers im Hinterkopf, es sind jedoch alle Qualitäten hinter dem Bild, nach denen wir suchen:
– Stolze Haltung, insbesondere der Haltung von Kopf, Hals und Schweif
– Leichtigkeit, Athletik und Freiheit in der Bewegung
– Korrekter, solider Körperbau
– Vorzügliche Modellierung und Trockenheit des Skeletts, insbesondere des Kopfes
– Feine Qualität von Haut und Haaren
– Temperamentvoll, menschenfreundlich und lernfähig
– Präsenz und Charisma, die natürliche Fähigkeit des Pferdes, sich selbst hervorzuheben, der „Schau mich an“-(Look at me)-Faktor
Typ ist wichtig und die Definition von Typ ist zum Standard geworden, aber er bleibt immer noch sehr subjektiv und Unterschiede in der Präferenz sind unvermeidlich, ja sogar wünschenswert. Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Typen innerhalb der Rasse erkannt, die auf verschiedenen Blutlinien oder Ländern basieren. Mit der Entwicklung des universellen Showpferdes werden jedoch bestimmte Merkmale stärker betont, als dies in der Vergangenheit der Fall war, und diese älteren Typen gehen verloren. Es ist wichtig, dass Variationen gewürdigt werden, vorausgesetzt, sie fallen in das gleiche umfassende Konzept dessen, was das Ideal ausmacht.”

Wie wir aus dieser Beschreibung sehen können, geht es beim Kriterium „Typ“ nur ganz nebenbei um den Kopf, nämlich dann, wenn es um die (stolze) Haltung des Kopfes geht, oder um dessen Trockenheit. Es geht bei diesem Kriterium nicht um den Dish oder das Profil – und dennoch kenne ich kaum eine Richterbewertung, die für Typ 20, für den Kopf aber nur 17 gibt …
Beim Kopf heißt es dann: „Das Profil und die Form des Kopfes sollten von der Seite betrachtet keilförmig sein, mit einem Dish oder einem vernünftigen konkaven Profil. Eine leicht vorgewölbte Stirn (Jibbah) und ein feiner Kopf mit einem geraden Profil werden ebenfalls akzeptiert. Von vorne gesehen sollte zwischen den Augen, die vom Kopf abstehen, ein breiter Abstand vorhanden sein. Der Kopf sollte sich zum Maul hin verjüngen.”
Und unter den „unerwünschten Eigenschaften” liest man (unter anderen): „Ein extremer Dish kann die Luftzufuhr beeinträchtigen und zu einer Fehlstellung der [Backen-]Zähne führen.“ Diese Ausführungen ließen sich beliebig auch auf andere kritische Punkte – Oberlinie, Schulter, Beine – in der heutigen Showpferde-Zucht erweitern.
Die Probleme werden von der ECAHO und ihren Instruktoren also durchaus erkannt und in der Lehre berücksichtigt – aber was passiert dann? Vor einigen Jahren war ein (alle paar Jahre verpflichtendes) Richterseminar in Aachen in Verbindung mit dem ANC. Ein befreundeter Richter, der dieses Seminar besuchte, war ganz begeistert, dass diese kritischen Punkte angesprochen wurden. Nach der Schau war er enttäuscht, denn keiner der ANC-Richter, die auch das Seminar besuchten, hatte das Gelehrte auch nur ansatzweise umgesetzt …

Einfluß auf die Rasse

Früher hörte man Argumente wie: „Ich will den Züchtern eine Hilfestellung geben will, bessere Pferde zu züchten“, oder „ich möchte möglichst viele Pferde von Nahem sehen, um meinen Blick weiter zu schulen“, oder „ich möchte gegebenenfalls einen Deckhengst für meine eigene Zucht finden“, wenn es um die Motivation für das Richteramt geht. Diese hehren Motive höre ich immer seltener. Heute – so scheint mir – geht es mehr um Luxusferien und Geld, denn im Mittleren Osten wird auf den großen Schauen bis zu 1000 € pro Tag bezahlt (und die Schauen gehen 3 Tage lang …). Bedenkt man dann nun, dass es Richter gibt, die bis zu 13 ECAHO-Schauen im Mittleren Osten richten (Zahlen aus 2023), dann kommt da ein hübsches Sümmchen zusammen. Welche anderen Gründe für diese hohe Anzahl an Richtereinladungen noch bestehen könnten, wollen wir einmal dahingestellt sein lassen, ebenso wie die Frage, ob dieses Geld versteuert wird …
Wenn also nicht mehr die Pferde und die Rasse im Mittelpunkt des Interesses stehen, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Selektion über Schauen in die falsche Richtung läuft. Vielleicht sollten wir unsere Richter fragen: „Wo sehen Sie unsere Rasse und die Schauszene in fünf bis zehn Jahren? Und sind Sie sich dessen bewußt, dass Sie es sind, die den Weg vorgeben?”
Ein Richter muß sich bewußt sein, dass jedes Mal, wenn er eine Note vergibt, er auch eine Stimme dafür abgibt, wie das arabische Pferd der Zukunft aussehen wird! Jedes Mal, wenn er eine 20 für einen extremen Kopf vergibt, ermutigt er den Züchter, noch extremere Köpfe zu züchten. Jedes Mal, wenn er eine undifferenzierte 15 für die Beine vergibt, gibt er dem Züchter zu verstehen, dass Beine egal sind. Jedes Mal, wenn er Bewegungen bewertet, obwohl das Pferd nur im Kreis herumrennt und keine zwei Tritte in einer geraden Linie geht, gibt er dem Vorführer zu verstehen, dass er damit durchkommt.
Früher waren die Richter Autoritäten, heute wird ihnen mit Misstrauen begegnet. Dieser Verlust an Glaubwürdigkeit ist einer der Gründe, warum die Mehrzahl der Züchter die Schauszene verlassen hat. Nun sollen für eine neue Show-Serie, die „Global Champions Arabians Tour“, die sieben Shows im Mittleren Osten und Europa beinhaltet und mit dem Welt-Championat in Paris 2024 endet, 17 Millionen Euro ausgeschüttet werden, an die Pferdebesitzer und Vorführer. Es wird das Vertrauen in die Richter nicht stärken – eher im Gegenteil. Wo so viel Geld für eine subjektive Beurteilung ausgeschüttet wird, für die der Richter nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, sind Tür und Tor für weiteren Mißbrauch geöffnet.
Gudrun Waiditschka