Was steckt in einem Pedigree?

Teil I: Ahnenverlust und Inzucht

Ein Pedigree ist mehr als nur eine Ahnentafel. Wenn man es richtig lesen kann, sagt es sehr viel über das betreffende Pferd aus. Allerdings braucht man eine ganze Menge Hintergrundwissen, um die Daten und Namen richtig deuten zu können.

Jeder Araberzüchter ist stolz auf die Abstammung seiner Pferde und spricht ehrfurchtsvoll von deren Pedigrees und den darin enthaltenen Vorfahren. Aber was auf den ersten Blick nur wie eine Anhäufung von Namen aussieht, ist in Wirklichkeit viel mehr, wenn man die Informationen darin richtig lesen und interpretieren kann. So enthält ein Pedigree beispielsweise Informationen über den darin vorkommenden Ahnenverlust, über Inzucht, Linien- oder Kreuzungszucht, über Hengst- und Stutenlinien, über horizontale und vertikale Vererbung, über den “Nick”, d.h. die passende Kombination gewisser Linien und/oder Pferde, und ob ein Pferd ein “Russe”, “Pole”, oder “Ägypter” ist. Nachfolgend wollen wir uns diese Begriffe und was sich dahinter verbirgt, näher anschauen.

Ahnenverlust

Das erste, was einem beim Blick auf ein Pedigree auffällt, sind die “bekannten Namen”, wie zum Beispiel der “Jahrhunderthengst” Nazeer. “Je öfter, je besser” denken manche Züchter und sind stolz auf eine Anreicherung solcher Namen im Pedigree. Aber was bedeutet das?
Grundsätzlich betrachtet hat ein Pedigree (im Gegensatz zur Nachkommentafel) eine regelmäßige Struktur, da jedes Individuum immer zwei Elternteile hat. Und dadurch verdoppelt sich die Anzahl der Vorfahren mit jeder Generation, d.h. jedes Tier hat zwei Eltern (21), vier Großeltern (22), acht Urgroßeltern (23), und so weiter. Allerdings können dieselben Ahnen in einem Pedigree mehrfach auftreten, wenn die Elternteile miteinander verwandt sind; dies wird als Ahnenschwund oder Ahnenverlust bezeichnet. Dieser Ahnenverlust tritt in einer Reinzucht nahezu zwangsweise auf, denn in der vierten Generation (Ur-Urgroßeltern) hat das betreffende Individuum 2 4 also 16 Vorfahren, in unserem klassichen 5-Generationen-Pedigree bereits 32.
Geht man von einem Generationsintervall von 10 Jahren aus (in heutiger Zeit dürfte das eher kürzer sein), das heißt der Zeitraum bis ein Pferd seinerseits wieder Nachkommen hat die ihrerseits wieder reproduzieren, so ergeben 5 Generationen einen Zeitraum von 50 Jahren. In 100 Jahren sind wir 10 Generationen zurück, d.h. wir betrachten 210 (= 1024) Vorfahren in der 10. Generation. Unsere ältesten Pedigrees gehen aber ca. 200 Jahre zurück, also 20 Generationen, damit sind wir bereits bei 220 d.h. über 1 Million Vorfahren – soviele arabische Pferde gab es damals aber gar nicht! Dies legt nahe, dass einzelne Vorfahren mehrfach in einem Pedigree vorkommen und daher spricht man von einem Ahnenverlust.
Innerhalb gewisser Grenzen ist der Ahnenverlust ein vollkommen normales Phänomen, das auf viele Vorfahren-Generationen betrachtet jedes Rassepferd betrifft. Aber Ahnenverlust ist nicht gleichbedeutend mit Inzucht. Um dies zu verdeutlichen stelle man sich folgendes vor: Ein stark ingezogenes Islandpony (das sagen wir mal eine Vater-Tochter-Anpaarung entsprungen ist) wird mit einem stark ingezogenen Araber gekreuzt. Jedes Elternteil für sich genommen hat einen hohen Inzuchtkoeffizienten und einen hohen Ahnenverlust. Das Kreuzungsprodukt aus diesen beiden aber hat einen Inzuchtkoeffizienten von 0 (also gar keinen), weil Islandponys und Araber völlig unterschiedliche Vorfahren haben und miteinander nicht verwandt sind. Es hat aber dennoch einen hohen Ahnenverlust, weil die jeweiligen Elterntiere durch ihre Inzucht (Vater-Tochter-Anpaarung) einen hohen Ahnenverlust aufweisen.
In der Pferdezucht wird dem Ahnenverlust allerdings keine allzugroße Bedeutung beigemessen, er tritt immer nur als “Begleiterscheinung” von Inzucht auf. Dennoch muß man sich darüber im Klaren sein, dass insbesondere in der Araberzucht der Ahnenverlust sehr hoch ist, denn man geht heute davon aus, dass alle “modernen” Araber auf nur etwa 500 ursprünglich aus dem Orient importierte Tiere zurückgehen, wobei man auch davon ausgehen muß, dass diese “Original-Importe” bereits miteinander verwandt waren.

Genetik – Exkurs

Um die diversen Fachbegriffe zu verstehen, müssen wir uns ein wenig mit Genetik befassen: Höhere Tiere, wie die Säugetiere und auch der Mensch, verfügen über einen zweifachen Chromosomensatz in jeder Körperzelle. Das bedeutet, jedes Chromosom gibt es in zweifacher Ausfertigung. Bei der Bereitstellung der Keimzellen (d.h. Samen- und Eizellen), wird dieser zweifache Chromosomensatz halbiert, und zwar so, dass zwei einfache Chromosomensätze entstehen, d.h. jede Ei- oder Samenzelle enthält von jedem Chromosom nur ein Exemplar. Nach der Befruchtung verschmelzen die beiden einfachen Chromosomensätze aus unterschiedlicher Herkunft (einer von der Mutter, einer vom Vater), und somit entsteht wieder ein zweifacher Chromosomensatz. Gäbe es diese Halbierung des Chromosomensatzes nicht, würde sich mit jeder neuen Generation der Chromosomensatz verdoppeln.
Auf den Chromosomen befinden sich die Gene jeweils an einem spezifischen Genort. Da wir also von jedem Chromosom zwei Exemplare haben, haben wir auch jedes Gen in doppelter Ausfertigung. Dabei kann ein Gen in mehreren Varianten (Allelen) vorkommen, z.B. dominant oder rezessiv. Das wird gemeinhin mit unterschiedlicher Schreibweise dargestellt, wobei z.B. homozygot AA oder aa bedeutet, heterozygot Aa.

Inzucht

Inzucht wird ganz allgemein als die Verpaarung von verwandten Individuen definiert.
In der Regel unterscheidet man drei Inzuchtgrade:
Inzestzucht (engste Inzucht) – Paarung von Tieren im 1. und 2. Verwandtschaftsgrad (Eltern x Kind, Vollgeschwister oder Halbgeschwister untereinander, Großeltern x Enkel)
Enge Inzucht (nahe Inzucht) – Paarung von Tieren im 3. und 4. Verwandtschaftsgrad (Onkel x Nichte, Vetter x Base)
Mäßige Inzucht (weite Inzucht) – Paarung von Tieren im 5. und 6. Verwandtschaftsgrad.
Vielfach wird bei der Pedigree-Analyse und der Einschätzung der Inzucht der Fehler begangen, dass einfach gezählt wird, wie oft ein Name im Pedigree auftaucht. Ist er mehrfach vorhanden, sprechen die Leute von Inzucht. Das ist nicht immer richtig! Das doppelte (oder mehrfache) Vorkommen eines Namens in einem Pedigree ist nicht gleichbedeutend mit Inzucht, denn Inzucht liegt nur dann vor, wenn der Vorfahr sowohl auf der Vater- als auch auf der Mutterseite (=Verwandtschaft) auftaucht.
Was bewirkt nun die Inzucht, und was macht sie gegegebenenfalls auch “gefährlich”? In den Lehrbüchern heißt es: Die Wirkung der Inzucht besteht darin, dass mit steigendem Inzuchtgrad die Wahrscheinlichkeit zunimmt, daß beide Allele eines Genortes herkunftsgleich sind (d.h. von einem gleichen gemeinsamen Vorfahren stammen). Diese Wahrscheinlichkeit kann mit dem Inzuchtkoeffizienten ausgedrückt werden, so beträgt z.B. der Inzuchtkoeffizient (F) für eine Vollgeschwisterpaarung F=25%, für Halbgeschwisterpaarungen F=12.5%.

Pedigree Borodina-600px

Mit Hilfe des Inzuchtkoeffizienten kann man die Inzucht für ein Pferd und vor allem für einzelne Vorfahren messbar machen und damit darstellen, wie sehr ein Pferd auf einen bestimmten Vorfahren ingezüchtet ist. Gebräuchlich ist in der Wissenschaft der Inzuchtkoeffizient nach Wright, dieser ist aber mit erheblichem Rechenaufwand verbunden, weshalb für den “Hausgebrauch” eine Näherung ausreichend ist. Betrachten wir unser Beispiel der Stute Borodina. Sie ist auf Aswan und Nabeg ingezüchtet. Die (näherungsweise) Berechnung des Inzuchtkoeffizienten erfolgt nach untenstehender Tabelle.

Berechnung Inzuchtkoeffizient-600px

1. Inzucht auf Aswan (IV. / III.), F = 1,56 % (in unserer Tabelle grün markiert)
2. Inzucht auf Aswan (IV. / III.), F = 1,56 %
3. Inzucht auf Aswan (IV. / IV.), F = 0,78 %
4. Inzucht auf Aswan (IV. / IV.), F = 0.78 %
5. Inzucht auf Nabeg (IV. / IV.), F = 0,78%
6. Inzucht auf Salon (V. / V.), F = 0,20 %
Borodina hat somit einen Gesamt-Inzuchtkoeffizienten (berechnet auf 5 Generationen) von 5,66 %, davon entfallen auf Aswan 4,68 %.
Generell zeigen Beobachtungen in der Tierzucht, dass Tiere oder Populationen mit einem hohen Inzuchtkoeffizienten, eine geringere Vitalität, geringere Widerstandskraft gegen Krankheiten und eine geringere Fruchtbarkeit aufweisen. Dies nennt man Inzuchtdepression (Leistungsrückgang) und beruht auf der Zunahme der Homozygotie (Reinerbigkeit im genetischen Sinne). Allerdings gibt es auch gerade aus der Pferdezucht genügend Beispiele wo trotz Homozygotie keine Verschlechterung (Depression) gewisser Leistungsmerkmale auftritt. Daraus kann man schließen, dass die Zunahme der Homozygotie nicht zwangsläufig zur Inzuchtdepression führen muß – aber sie kann. Es ist daher wichtig, bei starkter Inzucht gleichzeitig eine strikte Selektion anzuwenden.
Gudrun Waiditschka