Was ist einVollblutaraber?

Einige Reinheitsfanatiker behaupten, dass die Mehrheit der Vollblutaraber unrein sind, dass es sich um Partbreds, Mischlinge usw. handelt. Es läuft alles darauf hinaus, dass – obwohl wir dieselben Worte, wie beispielsweise “Vollblutaraber”, verwenden -, wir nicht dasselbe darunter verstehen. Werfen wir also einen Blick auf die Frage “Was ist ein Vollblutaraber?”

In der ganzen Diskussion über den „Vollblutaraber“ scheint es mir, dass wir im Turm zu Babel festsitzen und in verschiedenen Sprachen sprechen. Wenn wir eine Sache diskutieren wollen, müssen wir aber eine gemeinsame Sprache finden. Wenn die Dinge komplizierter werden, müssen wir sogar die Konnotation der Wörter kennen, d. h. ihre unterschiedliche Bedeutung aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Herkunft der beteiligten Personen. In unserem Fall ist die gemeinsame Sprache bei der Erörterung des Begriffs „Vollblutaraber“ die Definition der Begriffe „Rasse“ und „reinrassig“, die wir uns zuerst anschauen müssen.

Der westliche Ansatz

Unser westliches Konzept der „Rassen“ ist ziemlich neuzeitlich und erst etwa 200 Jahre alt. Früher wurden Pferderassen nach ihrer Herkunft benannt, d. h. entsprechend der Gegend, aus der sie stammten, zum Beispiel das Islandpony, der Friese, das arabische Pferd. Heute werden Pferderassen durch den jeweiligen Zuchtverband (Stutbuchorganisation) definiert. Das Stutbuch führt die genealogischen Aufzeichnungen (Stammbäume, Zuchtbücher) und legt Regeln fest, z.B. für die Zuchtberechtigung, Registrierung, für Wettbewerbe usw. Wenn ein Pferd von Eltern abstammt, die zu diesem Stutbuch gehören, gilt es als reinrassig. Das bekannteste Stutbuch ist das GSB (General Stud Book), das für das englische Vollblut eingerichtet wurde. Ich denke, es ist allgemein anerkannt, dass das englische Vollblut eine „reine Rasse“ ist. Bei der Rassegründung aber waren einige „einheimische englische Stuten“ sowie einige Berber-, Turcomanen- und Araberhengste beteiligt. Und aus dieser Mischung verschiedener Rassen entstand eine „reine Rasse“. Es ist wichtig zu verstehen, dass „reinrassig“ oder „reine Rasse“ eine administrative Definition ist, keine genetische! Und auch ein Rassenname ist nur eine Definition, eine Vereinbarung unter den Züchtern.
Werfen wir also einen Blick auf die WAHO (World Arabian Horse Organization), die Dachorganisation aller Araberzuchtverbände weltweit, und deren Definition eines “Vollblutarabers”. Darin heißt es: „Ein Vollblutaraber ist ein Pferd, das in einem von der WAHO akzeptierten Vollblutaraberstutbuch oder -register aufgeführt ist.“ Der WAHO gehören heute 63 Zuchtverbände (Stutbücher) an, und etwa 20 weitere Länder, deren Pferde von einem dieser 63 Verbände registriert werden. Diese Definition besagt, dass jedes Pferd, das in einem von WAHO akzeptierten Stutbuch registriert wurde, per Definition ein Vollblutaraber ist, und daher passt die WAHO-Definition genau in die zuvor beschriebene Definition eines „reinrassigen Pferdes“. Diese „zirkuläre“ Definition wird von allen 80 Zuchtverbänden und damit auch von deren Züchtern akzeptiert, die Vollblutaraber im Sinne der WAHO züchten. Ich nehme an, das sind rund 95% (oder mehr) aller Araberzüchter weltweit.
Unter Araberfreunden gibt es aber noch viele andere Ideen, zum Beispiel den Begriff der „Reinheit des Blutes“ und die „Rückverfolgung in jeder Linie bis zu den Wüsten Arabiens“. Ich möchte dieses Problem daher mithilfe verschiedener, unterschiedlicher Konzepte betrachten:
a) das Konzept von “reinrassig” und “reine Rasse” in der modernen Tierzucht,
b) das in den Beduinengeschichten übermittelte Konzept der „Reinheit des Blutes auf der Grundlage von Tradition, Kultur und Religion“,
c) das Konzept der „Reinheit der Gene“ auf der Grundlage der modernen Genetik.

Moderne Tierzucht

Das Konzept der „reinen Rasse“ in der modernen Tierzucht wurde oben bereits kurz umrissen und läuft auf eine administrative Definition hinaus. Egal, um welche Art von Pferden es sich zu Beginn der Registrierung handelte, sobald das Pferd in das Zuchtbuch aufgenommen wurde, gelten seine Nachkommen als zu der betreffenden Rasse gehörig. Wenn wir 200 Jahre zurückblicken, als die ersten europäischen Gestüte für arabische Pferden gegründet wurden, gab es noch keine Stutbücher für Araber. Es gab einige Buchautoren und andere Experten, aber keiner hatte die Autorität, die Rasse zu definieren. Grundsätzlich führte jedes Gestüt sein eigenes Zuchtbuch oder seine eigenen Aufzeichnungen. Auch war es die Sache des einzelnen Züchters, ein arabisches Pferd zu definieren, und es kam auf dessen Reputation an, ob andere ihm glaubten oder nicht. Wenn ein solcher Züchter also sagte: “Dies ist ein arabisches Pferd”, war es dies nach seinem Verständnis, auch wenn heute (!) einige Leute es anders definieren würden.
In den letzten 100 Jahren wurden dann in verschiedenen europäischen Ländern Zuchtverbände gegründet. Die “Arab Horse Society” von Großbritannien wurde 1918 gegründet und ist daher eine der ältesten. Zuvor waren arabische Pferde üblicherweise beim GSB registriert, normalerweise in einer separaten Abteilung, eine Praxis, die auch in anderen Ländern (Frankreich, Österreich, Deutschland) üblich war. Immer mehr Länder gründeten dann Zuchtverbände speziell für das arabische Pferd, aber jeder Verband hatte unterschiedliche Regeln und unterschiedliche Rassedefinitionen – insbesondere in Bezug auf Herkunft und Reinheit usw. Daher kam es vor, dass das eine Land die Pferde aus einem anderen Land nicht akzeptierte und nicht registrierte. Dies war ein großes Hindernis für den internationalen Handel. Um diese Situation zu beenden, wurde 1972 die WAHO gegründet. Zu dieser Zeit wurde in der WAHO-Definition lediglich festgelegt, dass die arabischen Pferde, die vor dem 1. Januar 1972 in den sieben Gründungsländern (mit bekannten und langjährigen arabischen Stutbüchern) existierten, als Vollblutaraber angesehen wurden. Es soll jedoch nicht verheimlicht werden, dass bereits damals einige Pferde unter dem Verdacht standen, nicht „rein“ zu sein oder nicht „in allen Linien auf die Wüsten Arabiens zurückzugehen“. Aber sie waren in den gegenseitig akzeptierten Stutbüchern eingetragen und fielen daher unter die anfängliche Definition. Später wurde die vorliegende WAHO-Definition entwickelt. In jedem Fall war die Festlegung der WAHO-Definition ein wichtiger Schritt für den internationalen Handel, für Export und Import.

Tradition, Kultur und Religion

Neben dieser technischen Definition gibt es viele romantische Geschichten über das arabische Pferd, seine Herkunft, seine Züchter und seine Rassengeschichte, und viele der heutigen Züchter scheinen diese Geschichten den nackten Tatsachen vorzuziehen.
Fassen wir diese Geschichten unter dem in der Beduinenerzählung übermittelten Konzept der „Reinheit des Blutes auf der Grundlage von Tradition, Kultur und Religion“ zusammen. Es ist ein ganz anderer Ansatz und basiert auf der mündlichen Weitergabe von Wissen, auf der religiösen Überzeugung, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, und auf der Integrität der Züchter. Darüber hinaus hängt es von der sozialen Kontrolle in den Gemeinden und Beduinenstämmen ab, die dafür sorgt, dass diese kulturellen und religiösen Regeln eingehalten werden. Es scheint logisch zu sein, dass dieses Konzept (wie wir es kennen) erst nach der Gründung des Islam auf der Arabischen Halbinsel entstand, da die Religion des Islams eim Teil des Reinheits- und Zuchtkonzepts ist. Es ist auch klar, dass das Konzept „Reinheit durch Tradition“ nur innerhalb dieses kulturellen und religiösen Rahmens Gültigkeit hat und für jeden Außenstehenden Raum für Misstrauen und Spekulation bietet.
Ein Teil dieses Konzepts wurde im 18. und 19. Jahrhundert von Orient-Reisenden nach Europa gebracht. Sie erzählten eine romantische Geschichte der wandernden Beduinenstämme, die das arabische Pferd seit Jahrhunderten züchteten und es dank ihrer Religion und kulturellen Traditionen rein hielten. Und was auch immer an dieser Geschichte wahr ist, sie gilt nur bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Weil die Beduinen in dem Maße ihren Lebensstil aufgaben, wie das Auto das Pferd und das Gewehr die Lanze verdrängte. Und so verlor das arabische Pferd in diesen Ländern seine „Daseinsberechtigung“. Als Öl entdeckt wurde und der Wohlstand steig, verlagerte sich das Interesse der Mehrheit der Menschen vom Lebensstil der Beduinen zum modernen Lebensstil, und die Anzahl der Pferde ging dramatisch zurück. Eine Zunahme der Bedeutung der Pferderennen als Sport hat den Rest erledigt und der Einfluss der englischen Vollblüter auf den Vollblutaraber ist kein Phänomen der Neuzeit! Glücklicherweise blieben in diesen Ländern einige wenige Züchter den alten autochthonen (d. h. ursprünglichen, einheimischen) Blutlinien treu, insbesondere in Syrien, Iran, Bahrain und Saudi-Arabien. Obwohl kaum einer von ihnen den Lebensstil der Beduinen beibehielt, züchteten sie ihre Pferde weiterhin aus Familientradition. Nennen wir sie also ”Erhaltungszüchter” im besten Sinne.
Ab den 1980er und 90er Jahren erlebte das arabische Pferd in den Ländern des Nahen Ostens eine Renaissance, als eine gewisse Gesellschaftsschicht (meist reiche Scheichs) das arabische Pferd als Teil ihres kulturellen Erbes wiederentdeckte und Pferde aus dem Westen „zurück-importierten“. Ihr „ursprüngliches Erbe“, d. h. die autochthonen Linien, spielten dabei keine große Rolle, da diese „neuen arabischen Pferdezüchter“ hauptsächlich moderne Blutlinien für den Showring und die Rennbahn importierten. Dieser Trend hält im Wesentlichen bis heute an.

Moderne Genetik

Weder das Konzept der Beduinenzucht noch das tierzüchterische Konzept der „Rasse“ sind wissenschaftliche Beweise dafür, welches Pferd genetisch ein Vollblutaraber ist und welches nicht. Beides sind kulturelle und / oder gesellschaftliche Vereinbarungen. Um den wissenschaftlichen Aspekt abzudecken, müssen wir die DNA heranziehen (siehe auch den Beitrag „Reinheit aus genetischer Sicht“ in dieser Ausgabe).
In letzter Zeit wurde viel geforscht, um den phylogenetischen Stammbaum der verschiedenen Pferderassen zu verstehen. Eine aktuelle Hypothese von Wallner et. al. legt dar, dass die orientalischen Rassen aus einer Pferdepopulation stammen, die vor etwa 1500 Jahren lebte und als „Kron-Haplotyp“ bezeichnet wird. Dies ist im Grunde die Ursprungspopulation von Pferden, aus denen die Rassen Araber, Turkomanen und Berber hervorgegangen sind.
Die wissenschaftliche Grundlage für diesen phylogenetischen Stammbaum basiert auf Haplotypen (d. h. einer Gruppe von Genen, die zusammen von einem einzelnen Elternteil geerbt wurden), die sich auf dem Y-Chromosom befinden und nur in der väterlichen Linie übertragen werden. Dieses Y-Chromosom fordert jedoch unsere Vorstellungskraft, da alle männlichen Pferde auf einen (!) Vorfahren zurückgehen. Bei den orientalischen Rassen lebte dieser männliche Vorfahr vor etwa 1500 Jahren. Natürlich gab es viele andere Pferde um ihn herum, die im selben Raum und zur gleichen Zeit lebten, aber nur seine männliche Linie setzte sich durch bis in die heutige Zeit. Die anderen Pferde können jedoch in den “autosomalen Chromosomen” der heutigen Pferde gefunden werden. Wenn nun alle (männlichen) Pferde der orientalischen Rassen (d.h. Araber, Turkomanen und Berber) einen gemeinsamen männlichen Vorfahren haben, von dem jeder unserer heutigen arabischen Hengste sein Y-Chromosom erhalten hat, was bedeutet das in Bezug auf die “Reinheit”? Es bedeutet, dass alle diese Rassen gemeinsames genetisches Material haben. Und wenn wir bedenken, dass sie alle von Nomaden in einer semi-ariden Umgebung gezüchtet wurden, haben diese Rassen mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede, und es sollte nicht überraschen, dass das arabische Pferd einige Gene beispielsweise mit der turkomanischen Rasse teilt.
Die moderne Genetik hat uns einen Einblick in die genetische Ausstattung des orientalischen Pferdes gegeben. Diese Daten zu haben ist eine Sache, die Interpretation dieser Daten ist eine ganz andere. Leider wurden diese Daten bereits von Personen ohne das erforderliche Fachwissen falsch interpretiert. Andere ziehen voreilige Schlussfolgerungen oder haben eine eigene Agenda, die sie mit den Daten zu unterstützen versuchen – all dies ist ziemlich gefährlich! Man muss verstehen, dass die Haplotypen für sich genommen keine „genetische Rassendefinition“ sind – es sind immer noch wir Menschen, die definieren, wer „rein kommt und wer draußen bleibt“. Wenn wir mithilfe der modernen Genetik definieren, welche Pferde als „Vollblutaraber“ akzeptabel sind und welche nicht, müssen wir entscheiden, welche Pferde wir als Referenzgruppe verwenden. Und wer definiert die Referenzgruppe? Immer wieder wird die Frage „was ist ein Vollblutaraber“ eine künstliche und menschengemachte Definition sein!

Rein, reiner, am reinsten

Die gesamte Diskussion über die „Reinheit“ des arabischen Pferdes hat ein gewisses Maß an Fanatismus erreicht, mit dem einige Gruppen die Mythen und Legenden über die Herkunft und Reinheit des arabischen Pferdes verteidigen, welche insgesamt betrachtet für den Ruf der Rasse eher schädlich ist.
Wie wir gesehen haben, ist sowohl die Rassenbezeichnung als auch die „Reinheit“ der Rasse eine künstliche Definition. Warum können wir uns also nicht darauf einigen, dass all diese von der WAHO akzeptierten Pferde per Definition als “Vollblutaraber” bezeichnet werden, während einige Erhaltungszüchter ihre Pferde “Straight Egyptian”, “Asil Arabians”, “Bedouin Horse” oder “Desertbreds” nennen. Es steht doch jedem frei, sich eine Untergruppe auszudenken und diese Blutlinien zu definieren, sei es innerhalb oder außerhalb der „Vollblutaraber“, denn dieser Begriff ist doch nichts weiter als ein Fachbegriff, eine Konvention, eine Definition, die sich seit nunmehr 50 Jahren eingebürgert hat. Die WAHO-Definition wurde einmal eingeführt, um alle Leichen im Keller ein für alle Mal zu begraben, damit die Schlammschlachten aufhören (“mein Pferd ist rein, deiner ist es nicht”). Anstatt innerhalb der Araberzuchtgemeinschaft gegeneinander zu kämpfen, sollten wir uns lieber an unseren Pferden erfreuen.
Gudrun Waiditschka