Der Kulturaraber

Wir Araberfreunde schwärmen ja immer gerne von den Pferden der Beduinen, und wie die harte Umwelt und die Züchtungskunst dieser Nomadenstämme diese Pferde zu dem gemacht haben, was sie (heute) sind. Und obendrein glaubt so mancher, wenn wir nur die Blutlinien rein erhalten, dann behalten wir auch das authentische Beduinenpferd, wie es vor 200, 500 oder 1000 Jahren war.
Leider ist dem nur auf dem Papier so, denn die Natur spielt dem Züchter allerhand Streiche. Da gehen Genvarianten verloren, andere bilden sich durch Mutationen neu. Wenn dann die Umweltbedingungen andere sind als in der Wüste, wenn die Selektionskriterien andere sind als die der Beduinen und wenn wir eine ganz andere Nutzung der Pferde anstreben, als es die Beduinen taten, dann wird sich das Pferd über kurz oder lang in seiner Erscheinungsform, in seinem Interieur, aber auch in seinem Metabolismus verändern. Es hilft nichts, wir züchten heute „Kulturaraber“ und keine Wüstenpferde mehr!
Wenn wir diesem Diskurs bis hierher gefolgt sind, können wir uns die Frage stellen: Was macht den Araber russischer Blutlinien aus, was den Araber ägyptischer Linien? In meinen Augen sind es die angewandte züchterische Selektion und die Umweltbedingungen. Bei den Russen waren dies Rennen, die vor allem als Gesundheits- und Funktionalitäts-Check dienten. Dadurch wollte man gesunde, athletische Pferde erhalten. Die Rennbahn war sozusagen der Ersatz für die Raubzüge der Beduinen. Nicht sehr „beduinisch“ ist das Klima im Nordkaukasus, wobei es im Sommer durchaus trocken und heiß sein kann. „Unbeduinisch“ ist auch die Zucht in großen Herden, die extensive Aufzucht mit viel Bewegung, aber ohne die allzu enge Bindung an den Menschen. Das schafft einen ganz eigenen Pferdetypus, den wir uns dann nach Hause holen – zum Beispiel nach Deutschland. Hier werden diese „Russen“ zwar in einem ähnlichen Klima gehalten, aber vielleicht mit mehr Stallhaltung und weniger Auslauf, mit mehr Menschennähe, aber gehaltvollerem Futter, ohne Rennbahn, dafür mit Spaziergängen. Denken wir zwei, drei Generationen in die Zukunft – wird das Produkt noch ein „russisches Pferd“ sein? Vielleicht auf dem Papier, weil es durchgehend russische Vorfahren hat. Aber ohne die gleichen Selektionsbedingungen werden die Härte, Ausdauer und Athletik verloren gehen, wenn diese Kriterien nicht mehr abgefragt werden und anderen Eigenschaften werden die Oberhand gewinnen.
Ähnliches gilt für die Ägypter – hier hatten schon die ägyptischen Paschas vor 150 Jahren die Haltungsbedingungen gravierend geändert: Das Beduinenpferd, importiert aus Saudi Arabien, Syrien oder Bahrain, wurde plötzlich in Ställen gehalten, und wenn man den zeitgenössischen Berichten folgt, standen die Beduinenstuten nun bis zum Bauch in ihrem eigenen Mist, hatten keinen Auslauf und wurden von Parasiten geplagt. Man stellte europäische Gestütsmanager ein, die natürlich europäisches Gestütsmanagement und Zuchtmethoden einführten, beides weit entfernt von Beduinentraditionen. Lediglich das Klima ist in Ägypten noch etwas „arabischer“ als in Europa. Auf dem Papier sind diese Pferde „Ägypter“, aber Beduinenpferde sind es nicht mehr. Und wenn sie nach Europa kommen, umso weniger, weil hier weder das Klima noch die Ernährung an die arabische Halbinsel erinnern.
Wir müssen uns damit abfinden: Wir können hier keine „Beduinenpferde“ züchten, wir züchten Kulturaraber. Wenn wir so weit gekommen sind, stellt sich die Frage – ob denn dann die „Reinheit“ noch eine so große Rolle spielt? Diese Frage darf jeder für sich selbst beantworten.
Gudrun Waiditschka