Altes Wissen

Wer sich mit Pferden befasst, muß sich in vielen Bereichen auskennen: Zucht, Aufzucht, Fütterung, Haltung, Reiten, usw. Und viele glauben, dass sie sich dieses Wissen aus Büchern anlesen können (oder noch schlimmer auf Facebook), oder sie holen sich Rat und Tat von selbsternannten Gurus. Lesen bildet, das ist schon richtig, aber in diesem Fall stimmt es nur zur Hälfte. Denn das theoretische Wissen ist das eine, die praktische Erfahrung aber das andere! Und gerade bei letzterem hapert es vielfach.
Systematische und selektive Pferdezucht ist rund 200 Jahre alt – damals war das Pferd noch Bestandteil des täglichen Lebens, jeder hatte mehr oder weniger Bezug zum Pferd. Die alten Kavalleristen in den Remontestationen oder die alten Landstallmeister haben 1000ende von Pferden beurteilt, bewertet und ihrer Qualität entsprechend eingeteilt. Das dabei gesammelte Wissen war ein Erfahrungsschatz, wie er heute kaum mehr jemanden möglich ist, zu sammeln, weil kaum jemand in seinem Leben mit einer so großen Anzahl von Pferden konfrontiert wird. Was Erfahrung sammeln anbelangt, so ist der heutige Pferdehalter und –züchter also per se in einer schlechteren Position als unsere Altvorderen. Diese Erfahrung kann man nur schwer durch fachkundige Bücher ausgleichen, und die alten Lehrmeister werden immer weniger.
Es ist also immer eine Abwägungssache, folgt man dem streng wissenschaftlichen Kurs, den Erfahrungswerten, oder den Pseudo-Experten? Und obwohl ich im Grunde meines Herzens der Wissenschaft vertraue, so ist gerade in der Pferdezucht und –haltung auch die langjährige Erfahrung ein wertvoller Wissenschatz. Denn letztendlich fährt man mit einer wohldosierten Mischung aus Wissenschaft und Erfahrungsschatz am besten. Nehmen wir beispielsweise die Jungpferdeaufzucht: In den großen Staatsgestüten, insbesondere in Osteuropa, wuchsen die Jungpferde auf riesigen Flächen extensiv auf – tagsüber tobten sie sich auf der Weide aus, abends ging es in die großzügigen Laufställe. Zur Kraftfutterration wurden sie angebunden, mit der Wurzelbürste etwas übergeputzt und die Beine angehoben – das war’s dann auch schon. So lebten sie, bis der Ernst des Lebens begann. Die Erfahrung lehrte, dass viel Bewegung Sehnen, Gelenke, Muskeln und das Herz-Kreislaufsystem kräftigt – und auch die Wissenschaft sagt nichts anderes. Heute aber glaubt der Hobbyzüchter und –pferdehalter, dass er die fehlende bewegungsintensive Aufzucht mit viel „betütteln“ wettmachen kann. Statt mit Gleichaltrigen auf der Weide zu toben – und zwar 24/7 – wird mit dem Fohlen, dem Jährling, dem Zweijährigen schon fleißig „geübt“, über Stangen zu laufen, auf’s Kommando zu hören oder er bekommt einen Ball als Spielkamerad. Statt den Erfahrungen der vergangenen Jahrhunderte zu folgen, folgt man Bodenarbeitsgurus.
Pferdezucht ist ein eher konservativer Bereich der Tierzucht, daher sollten wir vielleicht nicht jeder Mode folgen, sondern eher den Erfahrungen der letzten Jahrhunderte.
Gudrun Waiditschka