Züchten wir noch, oder vermehren wir nur?

Der Agrarwissenschaftler Andreas Perner hat anläßlich der VZAP-Mitgliederversammlung einen interessanten Vortrag zu derzeitigen Problemen in der Vollblutaraberzucht gehalten, den wir zum Anlass für das nachfolgende Interview genommen haben. Dabei geht es um Fehlentwicklungen in der Araberzucht, die vor allem durch die Spezialisierung und Selektion auf einzelne Merkmale entstanden sind und wozu er Parallelen in der Rinderzucht sieht, die wissenschaftlich untermauert sind.

IN THE FOCUS: Herr Perner, Sie haben in Ihrem Vortrag anläßlich der VZAP-Mitgliederversammlung einige Parallelen aufgezeigt, die zwischen der Rinder- und Pferdezucht bestehen. Warum sollen wir uns ausgerechnet mit Rindern befassen, wenn wir uns doch eigentlich für Pferde interessieren?

Andreas Perner: Weil es da zahlreiche Parallelen gibt. Das Urrind war geprägt durch einen enormen Brustraum mit viel Platz für die Organe, durch relativ feine Beine und eine Beckenform mit hohem Kreuzbein, damit die Geburt rasch verlaufen kann. Durch züchterische Selektion hat nun in den letzten 100 Jahren eine starke Veränderung dieses Erscheinungsbildes stattgefunden, bis hin zu einer extremen Spezialisierung in Fleisch- und Milchrinder. Da Kühe als Nutztiere seit langem im Fokus der Wissenschaft stehen, hat man hier auch leichten Zugang zu Datenmaterial, z.B. Milchleistung, Schlachtgewicht, aber auch Knochenmaße etc., wodurch sich solche Veränderungen auch belegen lassen.
In der Tierzucht unterscheidet man zwei Konstitutionstypen: den Astheniker und den Athletiker. Die Vertreter des Holstein-Rindes, eine hochspezialisierte Milchviehrasse, gehören heute fast ausschließlich dem Konstitutionstyp des Asthenikers an: groß, hoch und schmal, d.h. weniger Platz in der Brust für die Organe, eher schlechte Futterverwertung etc. Männliche Kälber dieser Rasse sind in der Bemuskelung so schwach, dass sie keinen wirtschaftlichen (Schlacht-)Wert mehr haben. Vor dieser extremen Spezialisierung auf die Milchleistung entsprach diese Rasse einem Milch-Mastrind oder Zweinutzungsrind und damit eher dem Konstitutionstyp des Athletikers, der heute sehr selten geworden ist.
Man kann hier durchaus Parallelen zur Araberzucht ziehen, wo durch Spezialisierung das arabische Schaupferd herausgezüchtet wurde – auch ein Astheniker, hochgewachsen, langbeinig, mit wenig Rumpftiefe. Und auch beim Araber wird der Athletiker, der mittelgroße, breite, tiefrumpfige Araber des „alten Schlages“, der auch ein guter Futterverwerter ist, immer seltener. Populationsgenetisch betrachtet ist dies eine große Katastrophe, und da müßte gegengesteuert werden.

Athletiker – mittelgroß, breit, tiefrumpfig (links) und Astheniker – groß, hoch und schmal (rechts)

IN THE FOCUS: Wenn wir mal von den „Äußerlichkeiten“, also dem Exterieur, absehen – gibt es noch weitere Veränderungen, die durch diese Spezialisierung eingetreten sind?

A. P.: In den letzten 30-40 Jahren hat man bei den Milchrindern immer mehr auf Höchstleistung bereits bei den jungen Tieren gezüchtet, d.h. es wurde bewusst auf Frühreife selektiert. Damit haben sich gravierende Veränderungen bei den Tieren manifestiert: Durch die Selektion auf Frühreife hat sich die Nutzungsdauer extrem verkürzt aufgrund hoher Krankheitsanfälligkeit und durch Fruchtbarkeitsprobleme – letzteres ist die Hauptabgangsursache in der Rinderzucht. Das kann man auch mit Zahlen belegen: In Deutschland bekommt heute eine Kuh im Durchschnitt 2,4 Kälber, biologisch aber kann sie 14-15 Kälber bekommen. Die „Nutzungsdauer“ der Kühe ist heute auf einem historischen Tiefstand. Die Selektion auf Frühreife hat auch Auswirkungen auf die Qualität der Klauen: Die frühreifen Tiere brauchen dreimal im Jahr Klauenpflege, die Klauen sind weich und wachsen sehr schnell.
Im Gegensatz dazu sorgt langsames, langanhaltendes Wachstum – also Spätreife – für eine gesunde Entwicklung des gesamten Organismus und eine lange Lebensdauer. Spätreife Rinder brauchen nur einmal im Jahr, manchmal auch nur alle zwei Jahre Klauenpflege, weil sie extrem gutes, festes Klauenhorn haben – was sich auch auf das Pferd übertragen läßt, denn auch das Hufhorn des Pferdes ist bei spätreifen Tieren von besserer Qualität. Das alles hängt dann wiederum mit einer hohen Qualität des Bindegewebes zusammen. Wenn man spätreife Tiere züchtet, sehen diese in jungen Jahren vielfach unterentwickelt aus und die Züchter erkennen oftmals nicht ihre wahre Qualität. Es ist auch ein Merkmal der Zucht auf Langlebigkeit, dass sie gesündere Tiere hervorbringt, die in der Rinderzucht statistisch betrachtet hochsignifikant weniger Tierarztkosten (d.h. nur ein Viertel der Kosten) verursachen.
Auch hier scheinen mir die Parallelen zur Pferdezucht ersichtlich: Die spätreifen Typen haben auf Schauen in den Junioren-Klassen keine Chance, weshalb die Schaupferdezucht den frühreifen Typus fördert. Oft sehen spätreife Pferde aus wie „hässliche Entchen“, vielfach werden sie erst im Alter von 6 Jahren oder älter zu „schönen Schwänen“. Dieses Problem hatte die Ägypterzucht schon lange, weshalb man auch immer weniger Ägypter auf den internationalen Schauen sieht bzw. sie ihre eigenen Schauen haben, wo sie nicht in Konkurrenz zu den frühreifen „Showpferden“ stehen.

IN THE FOCUS: Wenn Sie sagen, dass ein spätreifes Pferd charakterisiert ist durch ein langanhaltendes Wachstum, was dann für eine gesunde Entwicklung des gesamten Organismus und für eine lange Lebensdauer sorgt, so fallen mir dazu die Russen ein. Aber gerade diese werden sehr früh, bereits als Zweijährige auf der Rennbahn getestet. Ist das kein Widerspruch?

A. P.: Soweit mir bekannt, werden die zweijährigen Pferde sehr sorgfältig auf die Rennbahn vorbereitet und die Trainer achten darauf, dass sie nicht überfordert werden. Die Pferde haben auch Zeit, sich weiterzuentwickeln – sie werden sportlich gefördert, ohne überfordert zu werden. Sie entwickeln sich dadurch besser, werden breiter in der Brust, insgesamt muskulöser, der gesamte Organismus festigt sich etc.
Aber letztendlich ist doch entscheidend: Wie alt werden die Pferde bei guter Gesundheit – und damit ohne große Tierarztkosten? Und bei Zuchttieren kommt noch hinzu: Wie gut ist ihre Fruchtbarkeit? Es gibt „Russenhengste“ mit Rennbahnkarriere, die mit 28 Jahren noch im Natursprung decken, Stuten, die mit weit über 20 Jahren noch Fohlen haben, und die Vollblutaraberstute Nefta im französischen Pompadour hatte zwischen 1975 und 1995 jedes Jahr ein Fohlen, d.h. 21 Fohlen insgesamt! Aus der Schaupferdezucht sind mir derlei Beispiele ohne den Einsatz von Embryo-Transfer nicht präsent (aber ich lasse mich gerne belehren!).
In der Warmblutzucht sieht man, was die Selektion auf Frühreife bewirkt, insbesondere bei den Springpferden haben die Pferde oftmals bereits mit 8 bis 9 Jahren einen Nervenschnitt, dann hat man sozusagen noch zwei weitere Nutzungsjahre und dann gehen sie zum Schlachter. Oder denken Sie an die Hypermobilität der Dressurpferde, die ein schwaches Bindegewebe haben und eine daraus resultierende Schwäche der Gelenke, Kapseln und Bänder sowie der Sehnen und Muskeln. Das kann nicht das Zuchtziel sein.

IN THE FOCUS: Inwiefern haben moderne Selektionsmethoden die Entwicklung zur Spezialisierung beinflußt?

A. P.: Die Spezialisierung wurde bei den Rindern in den letzten 10 Jahren durch die genomische Zuchtwertschätzung vorangetrieben, die mittlerweile auch in der Pferdezucht Einzug gehalten hat. Für diese Methode mußte man das gesamte Genom sequenzieren und hat dann alle Leistungsparameter bestimmten Genorten zugeordnet. Dann konnte man mithilfe komplizierter Berechnungen eine Schätzung bekommen, welche Leistung das betreffende Tier in Zukunft erbringen wird. Auf diese Weise erreichte man zwar, dass eine junge Kuh eine Milchleistung von über 40 kg pro Tag erreicht, doch sind die Tiere physiologisch gar nicht mehr in der Lage, soviele Nährstoffe aufzunehmen, um diese Leistung überhaupt realisieren zu können! Dadurch enden über 90 % der jungen Kühe im Schlachthof mit schweren Organschäden. Das heißt, die Tiere halten es eine gewisse Zeit aus, mobilisieren alle Körperreserven und irgendwann kippt der Stoffwechsel und es kommt zu Leberschäden, die schließlich zum Tod führen.
Teil des Problems ist, dass man nach den falschen Parametern selektiert hat. Statt „Langlebigkeit“ und „Gesundheit“ mit einzubeziehen, hat man ausschließlich auf „Milchleistung“ selektiert. Auch geht durch die bequeme Katalogauswahl viel züchterisches Wissen verloren. Die Leute, die heute in der Rinderzucht am Hebel sitzen, nehmen nur noch den vorläufigen Zuchtwert oder den genomischen Wert zur Paarungsplanung zur Hand.
In der Pferdezucht und speziell in der Araberzucht sind wir noch nicht ganz so weit. Aber auch hier ging viel Züchterwissen in den letzten Jahren verloren!

Bevor die Spezialierung einsetzte: Drug (Prizrak / Karinka) *1985, nicht nur “European Race horse of the Year”, sondern auch European Champion im Schauring, Lier, 1990.

IN THE FOCUS: Wie kann man solch einer Entwicklung, wie Sie sie für die Rinderzucht skizziert haben, in der Pferdezucht vermeiden?

A. P.: In unserem Verein „Europäische Vereinigung für naturgemäße Rinderzucht“ haben wir Kuhfamilien ausgesucht, die sich zum einen über mehrere Generationen als langlebig erwiesen haben und bei denen in den zurückliegenden 3 bis 4 Generationen die Tiere über 100.000 Liter Milch produziert haben. Aus diesen Kühen kaufen wir Bullen heraus. Wir haben solche Kühe auch mit Sperma von Bullen besamt, die vor 30 oder 40 Jahren gelebt haben, und wir haben jetzt die ersten 200 Töchter dieser F1-Generation im entsprechenden Alter. Spannend ist, dass die Tiere annähernd genauso viel Milch geben, wie ihre „Hochleistungs-Verwandten“, aber wesentlich gesünder sind! Wie man nun mit der F1-Generation weiterzüchtet – dazu gehört viel züchterische Erfahrung und Wissen. Genau dieses aber fehlt den jungen Landwirten.
In der Pferdezucht haben wir das gleiche Problem, da werden die verschiedensten Blutlinien zusammengekreuzt und aufgrund der Mendelschen Regeln spaltet sich das Erscheinungsbild dann in der F2-Generation in alle Richtungen auf, und aus Spitzenpferden, die teuerstes Geld gekostet haben, werden maximal durchschnittliche Nachkommen erzielt, wie man am Beispiel des Wallachs Agnat sehen kann (Pedigree Agnat). Deshalb bieten wir in unserem Verein Informationen zum Thema: Wie muß man züchten, um eine hohe Vererbungssicherheit zu erreichen? Dazu muß man die alten Zuchtmethoden anwenden, d.h. Linienzucht, gelegentliche Inzucht, immer mit Blutanschluß arbeiten. Dann habe ich auch nicht das Problem, dass sich irgendetwas aufspaltet.

IN THE FOCUS: Bleiben wir bei der Araberzucht: Was sind rassetypische Merkmale, auf die man selektieren sollte?

A. P.: Züchten bedeutet Selektieren. Das heißt ja nicht, dass die Pferde, die nicht zur Zucht geeignet sind, zum Schlachter gehen. Aber man muß entscheiden, welche Pferde aufgrund welcher Eigenschaften in die Zucht gehen und welche nicht. Die, die nicht in die Zucht gehen, sollten dann immer noch genügend Qualität haben, dass sie in ihrem jeweiligen Marktsegment (Reitpferd, Schaupferd, Rennpferd) Bestand haben.
Arabertypische Eigenschaften, die es zu erhalten gilt, sind harte Konstitution, Eignung zur Dauerleistung, hohes Lebensalter, hohe Fruchtbarkeit, gute Futterverwertung, lebhaftes, aber gutartiges Temperament, Umgänglichkeit und Menschenbezogenheit.
Die Eignung zur Dauerleistung kommt u.a. dadurch zustande, dass der Araber am meisten Hämoglobin pro Liter Blut hat (im Vergleich zu Warmblut und Kaltblut). Das Hämoglobin ist für die Sauerstoffversorgung der Muskulatur verantwortlich, und daher ist es wichtig, dass der Araber gleichzeitig auch die Hämoglobinreserven im Körper am effizientesten mobilisieren kann. In diesem Zusammenhang steht auch ein hohes Regenerationsvermögen. Das alles ist genetisch tief verankert, aber wenn man auf diese Merkmale nicht achtet, nicht darauf selektiert, dann gehen diese Eigenschaften verloren. Man spricht dabei in der Tierzucht von Genotyp-Umwelt-Interaktion, d.h. wenn ich mit der Selektion auf bestimmte Merkmale nachlasse, dann gehen diese nach und nach (und unbemerkt) verloren.
Die Lebensdauer beträgt beim Araber nicht selten 25 Jahre, Pferde über 30 sind keine Seltenheit. Zur Fruchtbarkeit gibt es Beispiele aus den Staatsgestüten, wo Stuten 15 bis 20 Fohlen hatten und eine hohe Fruchtbarkeit bis ins hohe Alter aufwiesen. Hinzu kommt, dass der Araber die höchste Milchleistung (in Gramm) je kg Lebendgewicht aufweist, was auch ein Zeichen für gute Futterverwertung und Effizienz ist. In Tersk gilt die Milchleistung als Selektionskriterium, weil man keine Mütter will, die zu wenig Milch produzieren.

IN THE FOCUS: Welche weiteren Ergebnisse aus der Konstitutionsforschung am Rind kann man auf das Pferd bzw. das Arabische Pferd übertragen?

A. P.: Da fallen mir eine ganze Reihe von Punkten ein: die Konstitutionstypen und Frühreife/Spätreife haben wir zum Teil ja schon abgehandelt, dazu käme noch der Geschlechtsdimorphismus, also der Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Tieren, Züchtungsregeln, Zuchtmethoden, die Bedeutung der Stutenfamilien, die Selektion auf Größe und die Auswirkungen der Schauzucht, die es nämlich auch bei Rindern gibt!
Der Geschlechtsdimorphismus ist ein echtes sekundäres Geschlechtsmerkmal, hervorgerufen durch unterschiedliche Hormonkonstellationen der Geschlechter. Gebildet werden diese Geschlechtshormone bei Hengst und Stute in der Nebennierenrinde, zusätzlich werden dann Testosteron beim Hengst in den Hoden und die Östrogene bei der Stute in den Eierstöcken gebildet. Ein solches sekundäres Geschlechtsmerkmal ist beispielsweise der „Hengsthals“. Wenn wir nun Pferde züchten, wo Hengste und Stuten gleich ausschauen, wo kein sichtbarer Unterschied mehr ist zwischen den Geschlechtern – was passiert dann auf der hormonellen Ebene? Es verschiebt sich das natürliche hormonelle Gleichgewicht, das Testosteron nimmt ab, der Hengsthals verschwindet. Langfristig selektieren wir damit aber gegen die Fruchtbarkeit, d.h. die Fruchtbarkeit wird sich verschlechtern! Das ist auch, was man – hinter vorgehaltener Hand – immer öfter hört: Hengste haben eine schlechte Samenqualität und Stuten nehmen immer schlechter auf – man muß oft alle Register der modernen Reproduktionstechnologie ziehen, um die Tiere überhaupt trächtig zu bekommen. Es ist übrigens ein altes Tierzuchtgesetzt, das da heißt: „Je männlicher die männlichen Tiere in ihrem Erscheinungsbild, umso weiblicher sind seine weiblichen Nachkommen.“

In Russland wird noch Wert auf Geschlechtsdimorphismus gelegt, eine Stute ist sofort als solche erkennbar und ein Hengst ist ein “Herr”, denn “je männlicher die männlichen Tiere in ihrem Erscheinungsbild sind, umso weiblicher sind seine weiblichen Nachkommen”.

IN THE FOCUS: Züchten ist eine sehr komplexe Angelegenheit, wie man sieht. Welche züchterischen Grundsätze können Sie einem „Jungzüchter“ mit auf den Weg geben?

A. P.: Ja, was haben wir für die Zucht aus all diesen Forschungen gelernt?

  1. Niemals auf Einzelmerkmale züchterisch massiv selektieren, wenn man das Ganze nicht versteht. Das geht in die Hose. Ich möchte hier einen der bedeutsamsten Versuche aus der Tierzuchtgeschichte anführen: In den 1950er-Jahren haben der russische Biologe Dimitri Beljajew und seine Mitarbeiter begonnen wildlebende Silberfüchse zu fangen und nach Zahmheit selektiert und die nach diesem Kriterium ausgewählten Tiere immer wieder miteinander angepaart. Man wollte die Domestikation (Haustierwerdung) im Versuch nachstellen. Was ist also passiert? Schon nach der 3. Generation stellten sich im Phänotyp (äußeres Erscheinungsbild) gravierende Änderungen ein: Änderung der Fellfarbe, Hängeohren, Ringelschwänze, Verkürzung der Extremitäten, Verkürzung von Ober- und Unterkiefer, Änderung der Fellbeschaffenheit, Änderung der Rumpflänge etc.
    Es gibt für dieses Phänomen eine Reihe von Hypothesen zur Erklärung, deren Erläuterung hier aber zu weit führen würde. Wichtig ist zu wissen, dass vom gesamten Genom nur ein geringer Teil aktiviert ist, der Rest sind sogenannte „schlafende Gene“. Durch Umwelteinflüsse bzw. Selektionsdruck von außen (= Züchtung) wird nicht das Erbgut selbst verändert, sondern es ändert sich die Intensität, mit der bestimmte seiner Abschnitte abgelesen und in Moleküle wie z.B. Hormone umgesetzt werden.
    Als Fazit für den Züchter bleibt: Die Selektion auf ein Merkmal ändert letztlich ganze Merkmalskomplexe!
  2. Jede Selektion, die nicht auch auf Fitness und Langlebigkeit bzw. Dauerleistung ausgerichtet ist, bewirkt automatisch eine Verschlechterung dieser Merkmale.
    Wie auch schon eingangs erwähnt ist die physiologische Grundlage für Langlebigkeit und Dauerleistung langsames, lang anhaltendes Wachstum (= Spätreife). Dem entgegengesetzt ist der Merkmalskomplex der „Frühreife“, also schnelles, kurzes Wachstum, hohe und intensive Leistung in jungen Jahren und damit verbunden rasches Altern. Die Forschung am Rind hat ergeben, dass durch die intensive Selektion auf frühe und hohe Milchleistung der Tiere die Nutzungsdauer dramatisch abnimmt. Bevor die Tiere überhaupt ausgewachsen sind (mit 4 Kälbern) muss ein sehr hoher Prozentsatz der Milchkühe den Stall krankheitsbedingt verlassen. Diese frühreifen Tiere sind physiologisch nicht in der Lage, diese Leistungen durchzustehen. Hingegen beginnen spätreife Tiere mit mittleren Leistungen, entwickeln sich langsam und erbringen hohe und höchste Leistungen erst im ausgewachsenem Alter. Der Organismus mit all seinen Stoffwechselabläufen ist dann bestens „trainiert“, Bindegewebe, Knorpel, Gelenke, Sehnen, Bänder und Klauen sind von hoher Qualität (weil langsam gewachsen) und die Tiere produzieren ohne irgendwelche Gesundheitsprobleme bis ins hohe Alter.
    All das eben Gesagte trifft spiegelbildlich auch für die Pferdezucht zu. Der schnelle Erfolg drängt die Zucht hin zur Frühreife mit verheerenden Folgen für die Pferde und letztlich auch für den Pferdehalter.
  3. Die Funktion bestimmt die Form. Ich muß mir überlegen, welches Zuchtziel habe ich? Will ich ein Reitpferd züchten, braucht dieses gewisse Reitpferdepoints, und es muß geritten werden, damit diese überprüft werden können. Will ich ein Rennpferd züchten, muß es schnell sein – es ist diese Funktion (Schnelligkeit), die die Form vorgibt. Will ich aber ein Schaupferd züchten, muß es in eine Exterieur-Schablone passen, die von irgendwelchen Menschen (Richtern) entwickelt wurde. Hier ist also die Form zuerst da, und das Pferd wird dieser Form züchterisch angepasst, was grundlegend falsch ist.

IN THE FOCUS: Um sein Zuchtziel zu erreichen gibt es ja verschiedene Zuchtmethoden. Könnten Sie uns kurz erklären, welche das sind?

A. P.: Ich komme eigentlich aus einer Generation vor der Populationsgenetik. Mein Großvater hatte mit diesen theoretischen Betrachtungen nichts am Hut. Aber diese Leute haben trotzdem aufgrund ihrer Erfahrung verschiedene Zuchtmethoden entwickelt – diese sind auch heute noch gültig. Die Zuchtmethoden, die gemeinhin beim Arabischen Pferd zur Anwendung kommen, sind:

  1. Linienzucht – dies bedeutet, dass wir sowohl auf der väterlichen als auch auf der mütterlichen Seite eine (geringfügige) Verwandtschaft vorfinden, wir bringen also sozusagen verwandte Gene zusammen, logischerweise von Zuchttieren, die unseren Zuchtzielen entsprechen und bestmöglichst selektiert sind. Durch die geringfügige Verwandtschaft habe ich ein hohes Maß an Sicherheit, dass die nächste Generation genauso gut oder besser wird wie die Elterngeneration.
  2. Von Inzucht redet man dann, wenn man herausragende Zuchttiere hat und man diesen Genpool durch enge Verwandtschaftszucht festigen oder potenzieren möchte. Inzucht ist selbstverständlich nur dann möglich, wenn das Tier frei von jeglichen Erbfehlern ist. Inzucht verfestigt nicht nur die guten Seiten, sondern eben auch die Erbfehler oder unerwünschte Merkmale und bringt diese nach vorne. Zwei rezessive Erbanlagen können durch Inzucht homozygot, also reinerbig auftreten. Wenn die Erbanlage dann einen Erbfehler beinhaltet, hat man eben diesen Erbfehler reinerbig vorliegen, und er kommt zum Tragen (z.B. CA, SCID). Wie eng die Inzucht sein darf, darüber kann man trefflich streiten. Grundsätzlich ist eine Generation verschoben immer gut. Bevor man mittels Gentests auf Erbfehler testen konnte, hatte man Vater-Tochter-Paarungen gemacht – wenn der Vater verdeckt (rezessiv) Träger eines Erbfehlers war, ist dieser dabei an den Tag gekommen. Mit heutigen Gentests erspart man sich gegebenenfalls tote oder mißgebildete Fohlen. In jedem Fall aber muß die Verwendung von Inzucht in einen züchterischen Plan eingebettet sein und es muß eine strenge Selektion erfolgen!
  3. Fremdpaarung – dies ist eigentlich eine „ungeplante Paarung“, denn hier wird der nette Hengst um die Ecke oder der Super-Show-Crack verwendet, ohne dass groß überlegt wird, inwieweit er zur Stute passt und welche Auswirkungen dies hat. Nehmen wir noch einmal das Beispiel von Agnat: Sein Vater Empire war als Junior-Bronze-Champion am Europa-Championat und in der Top Ten am Welt-Championat. Der Großvater Enzo war US National Champion, seine Großmutter Emira war All Nations Cup Championesse, sein anderer Großvater QR Marc war Welt-Champion, und auch Kwestura war Welt-Championesse und teuerstes Pferd an einer polnischen Auktion. Sein Pedigree zeigt wirklich das „Who is Who“ der Showzucht und doch kam in der Kombination all dieser klangvollen Namen ein völlig gewöhnliches Pferd heraus. Was ist da also passiert? Ganz einfach: In diesem Pedigree ist alles zusammengemischt und dann schlägt die Spaltungsregel von Mendel zu und es spaltet in der F2-Generation in alle Richtungen auf. Als Konsequenz gehen dann die großen Showpferdezüchter zum Embryotransfer über, produzieren Embryonen von verschiedenen Vätern, von z. B. 10 Fohlen genügen 9 der resultierenden Fohlen nicht den Ansprüchen und werden billig verkauft, und der eine, der die Erwartungen erfüllt, geht in die Schau. Aber dass 9 Fohlen dem Zuchtstandard nicht entsprechen, das wird verschwiegen. Das ist „Versuch und Irrtum“ und hat mit „Zucht“ nichts zu tun. Deshalb bin ich ein absoluter Gegner dieser Methoden.
  4. Outcross – wie ein Outcross züchterisch richtig funktioniert, ist in aller Regel den wenigsten bekannt. Daher hier ein Beispiel: der Hengst Kurier, gezüchtet im Gestüt Chrenovoje, ein Gestüt das für seine extreme Rennleistungszucht bekannt war. Die Mutterlinie ist russisch, der Outcross kommt durch den Hengst Egis aus Polen, ein Derbysieger, von dem sich die Russen zum einen eine Blutauf-
    frischung versprochen haben, aber auch höchstes Leistungsvermögen. Züchterisch funktioniert das jetzt so, dass der Hengst Egis vom gesamten Stutenbestand die 5 besten Stuten zum Decken bekommt und seine zwei oder drei besten Söhne gehen dann in die Zucht. Erst diese Söhne werden dann in der Stutenherde breit eingesetzt. Züchten heißt in Generationen zu denken!
  5. Verdrängungszucht – hierbei werden ganz allgemein gesprochen gewisse Merkmale durch andere ersetzt. In der Tierzucht erfolgt das in der Regel durch Einkreuzung anderer Rassen. In der Araberzucht geschieht dies durch einen anderen Typus innerhalb der Rasse. Das kann man derzeit in den polnischen Staatsgestüten sehen, wo mitunter bereits in der dritten Generation wahllos Schaupferdehengste auf der durchgezüchteten polnischen Stutenbasis verwendet werden, sodass das polnische Blut immer mehr zurückgedrängt wird. Was dort derzeit geschieht, ist eine Verdrängungskreuzung mit Showpferden. Damit ruinieren sie innerhalb von 20 Jahren alles, was in 150 Jahren Zuchtarbeit aufgebaut und konsolidiert wurde.
  6. Selektion – in den großen Gestüten konnte man tatsächlich noch selektieren. Da hat man jedes Jahr 50 oder mehr Fohlen und wählt die 3 bis 4 besten aus, der Rest geht in die Remonte, wird also Reitpferd und somit dem züchterischen Genpool entnommen. Wenn ich aber als kleiner Privatzüchter nur ein Fohlen in 10 Jahre züchte, wird das mit der Selektion schwierig.
    Die goldene Regel in der Tierzucht lautet: Immer das Gute verdoppeln! Dann hat man ein hohes Maß an Sicherheit in der Vererbung.

IN THE FOCUS: Traditionell spielen in der Pferdezucht – und in der Araberzucht im Besonderen – die Stutenfamilien ein große Rolle. Warum ist das so?

A. P.: Wissenschaftlich kann man das auf die sogenannte cytoplasmatische Vererbung zurückführen. Der Hengst steuert bei der Befruchtung nur den Samen – und davon nur den Zellkern – bei. Die Stute aber steuert die Eizelle mit Zellkern bei und außenherum das Cytoplasma mit den Zellorganellen und speziell den Mitochondrien. Die Mitochondrien sind auch Träger von Erbanlagen, und sie sind verantwortlich für den Energiestoffwechsel der Zellen. Diese Mitochondrien werden mit der Eizelle immer von der Mutter an das Fohlen weitergegeben. Bei einem Hengstfohlen hat dieses zwar den Benefit davon, kann aber diese mitochondriale DNA (mtDNA) nicht an seine Nachkommen weitergeben. Nur ein Stutfohlen kann diese weitergeben an die nächste Generation. Daher kann man mittels der mtDNA die weiblichen Linie in die Vergangenheit zurückverfolgen. Auch in der Araberzucht sind mütterliche Leistungslinien, wie die der Sabellina in Polen oder der Sapine in Russland, bekannt.

IN THE FOCUS: Welchen Rat geben Sie einem Züchter, der sich eine Stute zur Zucht kaufen will?

A. P.: Ein Züchter sollte sich die Stutenlinie der betreffenden Stute anschauen. Wenn möglich, sollte man eine Stute aus einer Stutenlinie wählen, die unter Leistungsprüfungen gestanden hat. Wie schaut es bei der Mutter, Großmutter etc. aus mit der Anzahl der Fohlen? Das gibt einen Rückschluß auf die Fruchtbarkeit. Wenn die letzten drei Generationen aus Stuten bestehen, die alle Kriterien erfüllen, kann man auch bei der Stute, die man kaufen will oder mit der man züchten will, mit einer durchschlagenden Vererbung rechnen, d.h. mit einem hohen Maß an Vererbungssicherheit. Kauft man eine Zuchtstute, die bereits Fohlen hatte, sollte man sich erkundigen, ob diese Stute problemlos aufgenommen hat. Ist sie sofort trächtig geworden, war die Geburt problemlos, hat sie das Fohlen angenommen? Wenn wir in puncto Fruchtbarkeit besser selektieren, spart dies viele unnötige Tierarztkosten!
Das Problem heute liegt darin, dass es immer schwieriger wird, an solche Daten zu kommen, denn selbst Stutbücher enthalten meist nur die Fohlen, die gesund auf die Welt kommen und vom Züchter als „eintragungswürdig“ erachtet werden – die Anzahl der Bedeckungen, die zur Trächtigkeit führen, die Anzahl an Resorptionen, Aborten, Totgeburten, all das wird heute leider nicht mehr erfasst. Ein weiteres Problem ist, dass die meisten Zuchtstuten bei kleinen Züchtern stehen, wo sie gar nicht die Chance haben, 10 oder mehr Fohlen zu bekommen, weil sie eben nur ein- oder zweimal in ihrem Leben belegt werden. Anhand der heutigen Stutbuchdaten ist es nicht möglich zu erkennen, ob eine Zuchtstute, die nur zwei Fohlen in 10 Jahren hatte, öfters belegt wurde, aber eben kein lebendes Fohlen brachte, oder eben überhaupt nur zweimal zur Zucht eingesetzt wurde.
Und zu einer guten Zuchtstute gehört auch eine gute Milchleistung! In den großen Staatsgestüten in Polen und Russland wurde diese als Selektionskriterium erfasst, denn dies zählt auch zu den guten Muttereigenschaften.

IN THE FOCUS: Wie kann man den „Datenmangel“ beheben? Denn es sind ja die Mitglieder der Verbände, die beschlossen haben, dass nur noch die absolut notwendigen Daten erfasst werden, bzw. es werden die Totgeburten oder Aborte dem Stutbuch überhaupt nicht gemeldet.

A. P.: Ja, das ist ein Problem. Aber ich denke, wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, wo wir uns überlegen müssen, wohin wollen wir mit der Zucht in den nächsten 20 oder 30 Jahren? Da sollten die Züchter die Verbände veranlassen, dass die entsprechenden Daten auch erhoben und gesammelt werden. Ähnliches gilt für Leistungsnachweise, egal ob Reitsport, Rennen, Distanz oder Schau.

IN THE FOCUS: Kommen wir von den Stuten zu den Hengsten: Hengste haben zahlenmäßig einen viel größeren Einfluß auf die Zucht. Wenn ich beispielsweise daran denke, dass ein QR Marc über 850 Nachkommen in den letzten 15 Jahren gezeugt hat …

A. P.: Was zeichnet einen guten Hengst aus? Leistungsgeprüfte Vorfahren, frei von Erbfehlern, geprüfte Eigenleistung, bestes Exterieur und – ganz wichtig – ein einwandfreier Charakter. Wenn ein Hengst problematisch ist, nicht zu händeln ist, hat er in der Zucht nichts verloren.
Kommen wir zur Frage: Wie züchte ich einen guten Hengst? Das ist für mich die spannendste Frage überhaupt! Ich sehe derzeit in der Araberzucht viel zu wenig gute junge Hengste, damit wir in 5 oder 10 Jahren ein paar gute Hengste züchterisch zur Verfügung haben! Wie kann man dieses Problem angehen? Man kann in der Zucht sagen: Hinter jedem guten Hengst, steht eine gute Hengstmutter. Die Stute, aus der man einen künftigen Beschäler ziehen will, ist extrem wichtig. Gerade die guten Stuten sollten in der Zucht bleiben und geplante, gezielte Anpaarungen sollten gefördert werden.

IN THE FOCUS: Welche Gefahren für die Zucht sehen Sie in der Schauzucht?

Gerades Profil vs. gedishtes Profil

A. P.: Meine Aufgabe hier als Populationsgenetiker ist, dass ich auf Entwicklungstendenzen hinweise. Man muß sich der Gefahren bewußt sein, wohin der Weg führt, wenn wir diesen noch lange in diese Richtung weitergehen. Ich will hier nochmals zu den Rindern kommen, um zu zeigen, welche Auswirkungen die Schauzucht hat, weil das wirklich ganz parallel läuft:

  1. Genau wie in der Araberzucht versucht man in der Rinderzucht eine gerade Rückenlinie oder „Topline“ zu erreichen. Die Topline muß ganz gerade sein, das entspricht dem Schau-Standard. Aber was passiert dabei? Durch die Selektion auf die gerade Topline senkt sich das Kreuzbein in das Becken ab und behindert das Tier in seiner Funktionsfähigkeit bei der Geburt. Die Geburtswege werden kleiner (enger), weil – züchterisch gewollt – sich das Kreuzbein absenkt.
  2. Mangelhaft entwickelte Muskulatur in der Hinterhand – erinnern wir uns noch einmal an die eingangs erwähnten männlichen Kälber, die muskelarm sind. Das hängt damit zusammen, dass sich die Dornfortsätze beim Kreuzbein um 2-3 cm durch falsche Selektion verkürzt haben. Damit geht Ansatzfläche für die Muskulatur verloren und damit entstehen diese muskelarmen Becken. Und genau diese Tendenz sehe ich auch bei den Schaupferden.
  3. In der Rinderzucht hat eine Erhebung ergeben, dass über 90 % der Holsteinrinder zu den Asthenikern gehören, also zu den hochgewachsenen, schmalen Tieren, weniger als 10 % gehört den Athletikern an, also dem mittelrahmigen Typen mit der breiten Brust, die dies ausgleichen könnten. Nun möchte man aber eigentlich eine möglichst gut ausbalanciertes Tier züchten, dazu müßte aber für die große Mehrheit der Tiere ein mittelrahmiger, breiter Hengst/Bulle zur Verfügung stehen. Diese machen aber nur noch weniger als 10 % in der Population aus. Und genau in diese Richtung geht es auch in der Pferdezucht!
  4. Die Position des Hüftgelenks, beim Rind heißt das Umdreher, gemeint ist der Ansatzpunkt des Oberschenkels am Becken. In der Tendenz wird durch die Selektion auf die gerade Topline das Hüftgelenk nach hinten verschoben, das heißt, das Tier muß die Hinterbeine hinter den Körper raus stellen, was dann wiederum negative Auswirkungen auf die Bewegung hat, einen Nierendruck erzeugt und die Belastbarkeit des Rückens deutlich verschlechtert.
  5. Der extreme Hechtkopf mit Dish ist in meinen Augen eine Deformation. Jeder, der seinem Pferd ein Minimum an Leistung abfordert, wird erkennen, dass ein Pferd mit einem extremen Dish schlechter Luft bekommt. Dazu bräuchte es Forschung, um die genauen Zusammenhänge zu verstehen. Aber von Hunden und Katzen weiß man, dass mit der Verkürzung der Nase das Schleimhautmaterial im Nasen-Rachen-Raum nicht weniger wird. Dieses liegt dann aber nicht mehr straff, sondern „runzlig“, was zu den bekannten röchelnden Atemgeräuschen führt. Auch der Unterkiefer und die Zahnleiste sind nicht mehr gerade, sondern verlaufen bogenförmig, das führt zu Zahnproblemen. Die Zähne verändern sich evolutionsgeschichtlich nur sehr langsam. Für die heutigen zierlichen Köpfchen sind die Zähne der Wüstenaraber zu groß und haben dadurch Platzprobleme im Kiefer.
  6. Die Verfeinerung (Refinement) insbesondere des Kopfes, aber auch des gesamten Pferdes, und damit einhergehend ein mangelnder Geschlechtstyp bei den Hengsten. Dies hat z.B. Auswirkungen auf die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse). Die Hypophyse steuert den gesamten hormonellen Ablauf im Organismus. Sie verkleinert sich und man greift damit direkt in den Hormonhaushalt des Tieres ein und selektiert letztlich damit gegen die Fruchtbarkeit.
    Auch hier ein Beispiel aus der Rinderzucht: Immer öfter bekommen wir aus der Praxis die Rückmeldung über Wehenschwäche bei der Geburt. Was ist hier passiert: Das Hormon Oxytocin ist verantwortlich für die Wassereinlagerung ins Gewebe vor der Geburt und während der Geburt für das Auslösen der Wehen. All diese natürlichen Regulative sind durch die Veränderung der Hypophyse deutlich abgeschwächt, der Hormonspiegel ist zu niedrig. Das hat zur Folge, dass durch die Presswehen während der Geburt das restliche Blut nicht ausreichend aus der Placenta über die Nabelschnur in den Fötus gepresst wird. Ein normales Kalb hat kurz nach der Geburt rd. 7 Liter Blut im Organismus. Bei Wehenschwäche werden die Kälber dann meist mittels mechanischer Zughilfe herausgeholt und die Kälber haben oftmals nur rd. 3,5 Liter Blut im Organismus und sind damit deutlich lebensschwach und müssen mit hohem Aufwand über die ersten drei Lebenswochen gebracht werden oder verenden sogar.
  7. Mangelhafte Ausprägung des Brustkorbes bedeutet, dass das Tier keinen Platz für die Organe hat, insbesondere für Herz und Lunge, solchen Tieren mangelt es an Ausdauer und Leistungsfähigkeit, die Leistung des lymphatischen Systems ist deutlich herabgesetzt.
  8. Ein zu langes Mittelstück – wo doch ein Merkmal des arabischen Pferdes sein kurzer Rücken ist! Trotzdem wird hier auf lange Rücken selektiert, was dazu führt, dass die Tiere viel zu weiche Rücken haben und die Rücken nicht mehr stabil sind. Durch den langen Rücken kommt es zu einer Senkung in der Lende und die Tiere können nicht mehr schmerzfrei laufen.
  9. Deutliche Schwächen im Bindegewebe. Durch Selektion auf Frühreife und damit verbunden schnelles Wachstum kommt es zu einer deutlichen Schwächung des Bindegewebes. Wir haben dies beim Rind über lange Zeiträume anhand der Aufhängung des Uterus im Bauch-/Beckenraum bzw. anhand der Rückbildung des Uterus nach der Geburt untersucht. Angelaufene Beine und angelaufene Sprunggelenke sind beim Pferd ein Zeichen dafür – und diese Tiere sind als Reitpferd letztlich völlig unbrauchbar.
Saher (Ghazal / Sahmet) *1967 , Champion an der ersten internationalen Araberschau in Deutschland, Verden 1973 (links) und Hariry Al Shaqab (Marwan Al Shaqab / White Silk) *2010, Welt-Champion in Paris 2015 – zwischen den beiden Pferden liegen 40 Jahre Schaupferdezucht.

IN THE FOCUS: Ein wichtiger Aspekt heute ist auch die Größe. Das Arabische Pferd, das vor 200 Jahren nach Europa importiert wurde, war oftmals kleiner als 1,50 m, heute verlangen die Kunden ein Pferd, das 10 cm größer sein sollte. Welche „Gefahren“ birgt das „Größerwerden des Kulturarabers“?

A. P.: Beim Rind wurde untersucht, was passiert, wenn die Tiere immer größer und schwerer werden, und welche Auswirkungen dies hat. Eine Kuh wiegt durchschnittlich etwa 600 kg. Wenn wir nun 100 kg mehr Körpergewicht haben, bedeutet dies unwillkürlich auch einen enormen Anstieg an Erhaltungsbedarf. Ich halte es dabei mit H. V. Musgrave Clark, ein englischer Araberzüchter, der kleine Pferde um 1,45 m schätzte und kein Tier zur Zucht verwendete, das über 1,53 m war. Er hat mehrere Jahre in Amerika gelebt und dort als Postreiter gearbeitet und seine Erkenntnis war, dass mittelrahmige Pferde immer die größte Ausdauer hatten. Das heißt für uns, die Selektion auf übermäßige Größe, auf Tiere, die über 1,60 – 1,65 m gehen, ist nicht zielführend. Die Größe muß frei pendeln, d. h. es kann durchaus Tiere geben, die größer sind, aber man sollte nicht nachdrücklich darauf selektieren.

IN THE FOCUS: Wie könnte es weitergehen?

A. P.: Die großen Staatsgestüte lösen sich auf, das muß man leider so sagen. In Russland wurde Chrenovoje privatisiert und hat die Araberzucht aufgegeben. Auch Tersk ist privatisiert und hat heute drei verschiedene Zuchtprogramme: Rennpferde, Schaupferde und „Classic Russian“, wobei diese letzte Gruppe immer kleiner wird. In Polen haben wir gesehen, dass eine Verdrängungszucht mit Schaupferden stattfindet. Wenn das noch 10 Jahre so weiter geht, ist nichts mehr von dem ursprünglichen polnischen Araber vorhanden.
Es gibt aber auch kleine Hoffnungsschimmer. In Spanien wurde bereits 2003 ein hochinteressantes Projekt ins Leben gerufen. Dabei wurde ein Zuchtwert für Leistungsprüfungen entwickelt, es gibt verschiedene Selektionsstufen, u.a. eine Jungpferdeselekion, geprüfte Vererber und Elite-Vererber.
Zum Schluß möchte ich noch ein Projekt vorstellen, dass wir hier in der Rinderzucht ins Leben gerufen haben. Wir haben uns vorgenommen, die Dauerleistungszucht zu erhalten, weil dieses Rind durch die genomische Selektion und die Zuchtwertschätzung, wie sie derzeit vorgenommen wird, überhaupt keine Chance mehr hat. Wir haben daher einen Verein gegründet, und haben dann Kuhfamilien gesucht, die unseren Kriterien für die Dauerleistungszucht entsprechen. Dann haben wir daraus Bullen angekauft, d.h. wir haben jetzt knapp 40 Bullen auf Besamungsstation, wir haben ein eigenes Samendepot und wir versorgen damit Landwirte, die an dieser Art der Zucht Interesse haben. So etwas Ähnliches könnte man auch auf das Arabische Pferd übertragen. Man bräuchte eine europaweite Zuchtplattform, natürlich muß man sich überlegen, wie man so etwas finanzieren könnte. Dann braucht man eine viel bessere Datenerhebung, es müßte Forschungsarbeit gemacht werden, man müßte die einzelnen Initiativen (wie in Spanien, siehe oben) vernetzen, Hengst- und Stutenlinien erfassen, um zu sehen, welche gefährdet sind, eine Umfrage starten, welches Tiefgefriersperma von älteren Hengsten noch vorhanden ist, und – und das ist mir sehr wichtig – es bräuchte einen Wissenstransfer. Es bräuchte das Angebot einer Zuchtberatung für die nächste, jüngere Züchtergeneration, weil sonst das alte hippologische Wissen komplett verloren geht.

IN THE FOCUS: Besten Dank für Ihre klaren Worte und Ihr Engagement für den Erhalt der alten Werte in unserer Rasse.

Das Interview führte Gudrun Waiditschka

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Züchten wir noch, oder vermehren wir nur? (130 Downloads)

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Andreas Perner hat in Wien studiert, Fachrichtung Tierzucht und Populationsgenetik. Er war seit 2010 freier Mitarbeiter und ist seit 2018 Leiter des Forschungsinstituts für ökologische Tierzucht und Landnutzung. Er hat seinen eigenen Betrieb, den er seit 1999 biologisch bewirtschaftet und wo er Milchkühe und arabische Pferde züchtet.